© Autohilfe Zürich
Fabian Knecht, Präsident der BTV, weiss, wie anspruchsvoll die Bergung havarierter E-Fahrzeuge ist.Die Bergung und der Transport havarierter E-Fahrzeuge können heikel sein. Seit 2018 unterstützt die Bergetechnische Vereinigung BTV die Einsatz- und Rettungskräfte dabei – mit Fachwissen, praktischem Know-how und Schulungen. Nun hat die BTV einen digitalen Leitfaden lanciert, der sekundenschnell eine gute Beurteilung der von einem E-Fahrzeug-Wrack ausgehenden Gefahren erlaubt.
2018 entstand aus einem Bild eine Vision: Im Raum Zürich war ein Tesla Model S in eine Tunnelwand gekracht – und die zum Unfallort geeilten Rettungskräfte sahen sich angesichts des übel deformierten Elektroautos mit unzähligen Fragen konfrontiert. Ist es gefahrlos möglich, die im Fahrzeug eingeschlossenen Personen zu befreien? Steht die Karosserie des Autos unter Hochspannung? Wird das Auto gleich brennen? Wie ist der Abtransport zu gestalten? Wo kann das havarierte Fahrzeug gelagert werden – und wie gelingt die sichere Entsorgung?
Fragen, die sich Einsatz- und Rettungskräfte aus aller Welt seit Aufkommen der Elektromobilität stellen – und die auch weitere Institutionen auf Trab halten. Allen voran die für die Bergung, den Transport und die gesicherte Verwahrung havarierter Fahrzeuge zuständigen Bergedienste. Aber auch Versicherungen (Kostenübernahme, Entsorgung, Untersuchungen) und Importeure (Quarantäneplätze, Transport, Lagerhaltung) sind gefordert.
Das Problem, die Erkenntnis, der Macher
© Autohilfe ZürichDieses 2018 in einem Zürcher Strassentunnel verunfallte Elektroauto des Typs Tesla Model S animierte Fabian Knecht zur Gründung der Bergetechnischen Vereinigung BTV.Einer, der sich nicht erst seit dem Tesla-Crash mit der Problematik beschäftigt, ist Fabian Knecht, Geschäftsführer der Autohilfe Zürich AG. Der 40-jährige gelernte Fahrzeugelektroniker und Elektroniker sowie Fahrzeugtechnikexperte beschäftigt sich seit den Anfängen der E-Mobilität intensiv mit deren Technologien, Chancen und Risiken. Entsprechend breit gefächert und fundiert ist sein diesbezügliches Fachwissen, das Fabian Knecht nebenamtlich in Kursen an die Einsatzkräfte von Feuerwehren und Polizeikorps sowie die Mitarbeitenden von Abschleppdiensten weitergibt.
Spätestens nach dem spektakulären Tesla-Crash im Tunnel stand für ihn fest: Die Schweiz braucht eine national tätige, übergeordnete und neutrale Fachorganisation, welche für die Entwicklung der benötigten Strukturen sorgt, griffige Handlungsanweisungen formuliert und alle bei E-Fahrzeug-Havarien involvierten Institutionen unabhängig und neutral berät, begleitet und mit Fachwissen, praktischem Know-how sowie Ausrüstung unterstützt.
Von der Idee zur Vereinigung
Getreu dem Motto «Nicht nur lafern, sondern liefern!» rief Fabian Knecht im Jahr 2018 die Bergetechnische Vereinigung, kurz BTV, ins Leben, der er bis heute als Präsident vorsteht. «Wir bieten allen mit der Thematik befassten Institutionen, namentlich Polizeikorps, Feuerwehren, Bergungsdiensten, Versicherungen und Importeuren, Lösungen und Schulungen im und rund um den Bereich Unfallhilfe an. Zudem stehen wir ihnen mit Manpower, Material und Wissen hinsichtlich des sicheren Umgangs mit havarierten Elektrofahrzeugen zur Verfügung», fasst Fabian Knecht die zentralen Leistungen der BTV zusammen. «Eigene Interessen sind dabei nebensächlich», betont er. «Im Fokus der BTV stehen das Gewerbe der Abschleppdienste sowie die Rettungsorganisationen. Und wir agieren nach dem Grundsatz <true and fair>, setzen auf eine solide, sichere, korrekte und nachhaltige Ausbildung.»
Konkret gehe es darum, erklärt Fabian Knecht, die betroffenen Institutionen durch kundenorientierte Aus- und Weiterbildung, technische Beratung und Hilfestellung bereits im Vorfeld zu unterstützen. «Es ist eminent, dass diese die besonderen Herausforderungen, die von havarierten Elektrofahrzeugen ausgehen, erkennen. Nur so können sie ergebnisorientiert und gut vorbereitet agieren.»
Kommt es tatsächlich zum Ernstfall, ist die BTV auch direkt am Ereignisort zur Stelle – mit einer 24/7-Notfallnummer, telefonischer Unterstützung, einer allfällig nötigen Expertenbeurteilung vor Ort und der Abwicklung der situationsadäquaten Bergung, des Transports sowie (im Nachgang) der korrekten Verwahrung, Zerlegung und Entsorgung des havarierten Elektrofahrzeuges.
© BRK News
Im Herbst 2021 fing in Frauenfeld ein verunfallter Tesla Feuer. Die Feuerwehr benötigte Stunden, um das Fahrzeug zu löschen. Zum Abtransport nutzte die Autohilfe Ostschweiz einen Brandunterdrückungscontainer.Drei definierte Gefahrenstufen
Mit Blick auf einen möglichst «standardisierten» Umgang mit havarierten Elektrofahrzeugen und basierend auf den Erfahrungen der vergangenen Jahre hat die BTV drei Gefahrenstufen definiert und dazu passende eigene Symbolbezeichnungen entwickelt. «Grundsätzlich gehen von havarierten Elektrofahrzeugen vier Gefahren aus», erläutert Fabian Knecht. «Erstens die sehr offensichtliche elektrische Gefahr. Zweitens die chemische Gefahr, etwa durch austretende Batterieflüssigkeit. Drittens, abhängig von Art und Umfang der Beschädigungen am Fahrzeug, das Risiko einer Verpuffung. Und – natürlich – die Brandgefahr. Wobei hinsichtlich letzterer die Erkenntnis wichtig ist, dass ein Brand einerseits sofort, andererseits aber auch erst verzögert – nach Stunden, Tagen oder gar Wochen – auftreten kann. Der erste Fall ist bei sehr schweren Beschädigungen der Hochvoltbatterien, namentlich bei Durchdringungen der Akkuzellen, häufig. Der zweite Fall ist deutlich heimtückischer – und betrifft vor allem Fahrzeuge, bei denen die Hochvoltbatterie nur gering respektive nur teilweise und möglicherweise nicht sofort mit blossem Auge erkennbar beschädigt ist.»
Die meisten havarierten E-Fahrzeuge sind «harmlos»
Fahrzeuge der Gefahrenstufe 1, von denen nur geringe Gefahr ausgeht, stellen nach den Erfahrungen von Fabian Knecht, aber auch laut Statistiken der grössten Versicherer hierzulande den Löwenanteil aller E-Auto-Wracks.
«80 bis 85 Prozent aller Elektrofahrzeuge, die aufgrund eines Unfalls oder eines Elementarereignisses beschädigt wurden, sind nicht gefährlicher als das Wrack eines Fahrzeuges mit konventionellem Verbrennungsmotor», weiss Fabian Knecht. «Solange die – in aller Regel konstruktiv besonders geschützte – Hochvoltbatterie unbeschädigt ist, muss situativ lediglich eine Notabschaltung des Hochvoltsystems vorgenommen werden, sofern eine solche vom Fahrzeugsystem nicht bereits automatisch ausgelöst wurde. Danach kann entsprechend ausgebildetes und geschultes Fachpersonal die Bergung und den Abtransport mit konventionellen Mitteln vornehmen – und das Fahrzeug gemäss Herstellerangaben verwahren. Nötigenfalls auf einem speziell geeigneten Quarantäneplatz.»
Bei Karosseriedeformationen wird es heikel
© DEKRACrashtests des DEKRA mit einem Nissan Leaf haben gezeigt: Elektrofahrzeuge sind sicher konstruiert und fangen selbst nach heftigen Zusammenstössen keineswegs immer sofort Feuer.Heikler ist die Bergung eines Elektroautos, bei dem mittelschwere bis starke Karosseriebeschädigungen erkennbar sind und/oder bei dem das Hochvoltsystem beschädigt oder fehlerhaft ist. «Solche schweren Havarien der Gefahrenstufe 2 machen etwa 10 bis 15 Prozent aller E-Fahrzeug-Crashes aus», erläutert Fabian Knecht. Eminent sei es dann, zuverlässig zu erkennen, ob nur das HV-System oder womöglich auch die HV-Batterie in Mitleidenschaft gezogen wurde. «Ist die HV-Batterie noch intakt, ist grundsätzlich ein normaler Abtransport möglich», sagt er. Da dieser Sachverhalt aber oft nur schwer überprüfbar respektive zweifelsfrei feststellbar sei, müsse die Beurteilung in solchen Fällen zwingend durch fundiert ausgebildetes und erfahrenes Fachpersonal vorgenommen werden. Im Zweifel müssten Bergung und Transport nach höheren Sicherheitsstandards erfolgen. «Die Verwahrung des Wracks auf einem Quarantäneplatz ist dann ohnehin zwingend», betont Fabian Knecht.
Beschädigte HV-Batterie? Code Red!
Nur sehr selten – laut Fabian Knecht bei nur einer bis drei von hundert Havarien – handelt es sich um einen Fall der Gefahrenstufe 3. Diese liegt vor, wenn die HV-Batterie definitiv beschädigt wurde (wenn auch nur leicht respektive teilweise) oder ihr Zustand nicht zweifelsfrei beurteilt werden kann und/oder eine Notabschaltung nicht (mehr) möglich ist. «In einem solchen Fall muss, sofern das Fahrzeug nicht ohnehin bereits Feuer gefangen hat, zwingend sofort die Feuerwehr hinzugezogen werden», sagt Fabian Knecht. Überdies seien bei der Bergung und beim Transport besondere Sicherungsmassnahmen nötig. Auch müsse die Verwahrung eines Kategorie-3-Wracks auf einem kontinuierlich überwachten Quarantäneplatz erfolgen und es sei «mehr als ratsam», die für diesen Platz zuständige Feuerwehr über das Vorhandensein eines stark beschädigten und deshalb «brandgefährlichen» E-Fahrzeugs zu informieren.
Konkrete Beurteilung ist nicht trivial
«Die konkrete Beurteilung, in welche der drei Gefahrenklassen ein havariertes Elektrofahrzeug einzuordnen ist, ist nicht trivial und bedingt viel Erfahrung», sagt Fabian Knecht. Zwar existiere mit der «A.U.T.O»-Regel, nach der zuerst die Armaturen und das eventuelle Austreten von Flüssigkeiten gecheckt, dann der Unterboden und der Raum unter der Motorhaube geprüft werden, ehe der Tankdeckel (eigentlich: der Ladeanschluss) und zu guter Letzt die Oberfläche des Fahrzeugs (und dort angebrachte Warn- und Sicherheitshinweise des Herstellers) kontrolliert werden, eine grobe Vorgehensanleitung. «Doch auch die Abarbeitung der A.U.T.O-Regel bedingt bereits adäquates Fachwissen», betont Fabian Knecht.
Daher lautet sein Rat an alle Einsatz- und Rettungskräfte: «Nehmt die Verpflichtung zum Selbstschutz sehr ernst – und Hände weg von allen Hochvoltkomponenten und sämtlichen orangefarbenen HV-Leitungen!»
Digitaler Leitfaden für die Entscheidung
Damit Einsatz- und Rettungskräfte künftig möglichst einfach, sicher und zuverlässig beurteilen können, welcher Gefahrenstufe ein havariertes Elektrofahrzeug zuzuordnen ist, hat die BTV im Jahr 2021 einen digitalen Leitfaden entwickelt. Dieser leitet mit einer nur wenige Fragen umfassenden Kaskade durch den Analyseprozess und ermöglicht so eine recht zuverlässige Beurteilung der aktuellen Lage. Entsprechend den Antworten auf die einzelnen Fragen erhalten die Einsatz- und Rettungskräfte wertvolle, leicht erfassbare Handlungshinweise – und erfahren schnell und sicher, ob sie Verstärkung durch die Feuerwehr anfordern müssen. Zudem können sie der Organisation, die das Wrack bergen und abtransportieren soll, wichtige Informationen dazu liefern, was diese am Einsatzort konkret erwartet. «So kann das Bergeteam sich besser auf den Einsatz vorbereiten und trifft mit der gesamten benötigten Ausrüstung am Einsatzort ein», sagt Fabian Knecht.
Aktuell ist der Leitfaden der BTV nur online nutzbar (Demo unter www.bergung.ch/leitfaden). In absehbarer Zukunft will die BTV das Tool aber zu einer on- wie offline nutzbaren, mehrsprachigen App weiterentwickeln. Diese soll dann für alle Partner und Mitglieder der BTV kostenfrei nutzbar sein.
Weitere Informationen zum digitalen Leitfaden sowie zu den Leistungen, Diensten und (Weiter-)Bildungsangeboten der seit Anfang 2022 in allen vier Sprachregionen der Schweiz erreichbaren BTV finden Interessierte auf der ebenfalls zu Jahresbeginn neu gestalteten Website www.bergung.ch.