Das Bildungspolitische Gesamtkonzept «BGK 2020» richtet die Polizeiausbildung neu aus. Es birgt Sprengkraft, weil es beweist: Standardisierung trotz Föderalismus ist möglich! Die potenzielle Strahlkraft ist gewaltig – und könnte den Weg für mehr «harmonisierten Föderalismus» weisen. Nicht nur in der Aus- und Weiterbildung.
Der Schweizer Föderalismus ist kaum irgendwo sonst so lebendig wie im Bereich der Polizei. Alle wissen: Standardisierungsbestrebungen, das Ansinnen, die wilden Blüten, die der «Kantönligeist» bisweilen treibt, zu harmonisieren, sind eine Sisyphusarbeit. Belege für diese These liefern das Projekt Harmonisierung Polizei-IT (HPI), das Beschaffungswesen – und die Aus- und Weiterbildung. Doch nun ist Wegweisendes passiert: In der Polizeiausbildung wurde der gordische Knoten gelöst! «Schuld» hat das BGK 2020, welches (endlich) nationale Standards definiert – für eine weiterhin dezentrale polizeiliche Berufsbildung. Damit nicht genug, wird die Ausbildung auch besser – und zukunftsfähiger.
Harmonisiert und doch föderalistisch
Initiiert wurde das BGK 2020 von der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektor/innen (KKJPD) und der Konferenz der kantonalen Polizeikommandant/innen (KKPKS). Die Projektleitung obliegt dem Schweizerischen Polizei-Institut (SPI) als Teil der Trägerschaft – zusammen mit KKPKS, SVSP (Schweizerische Vereinigung der städtischen Polizeichefs) und VSPB (Verband Schweizerischer Polizei-Beamter). Zusammen bilden diese die Organisation der Arbeitswelt (OdA) Polizei. Das schafft die nötige breite Basis für ein landesweit bedeutendes Projekt, das einiges umkrempeln wird – und drei Kernstücke besitzt.
Das erste Kernstück des BGK 2020 bildet das Ausbildungskonzept. Dieses erweitert die Polizeiausbildung auf neu zwei Jahre und verteilt sie auf zwei Lernorte. Im ersten Jahr drücken angehende Polizeikräfte im Regionalen Ausbildungszentrum (RAZ) die Schulbank – und legen im Sinn einer Vorprüfung die landesweit einheitliche «Prüfung Einsatzfähigkeit» (PEF) ab. Im zweiten Jahr erwerben die Aspirantinnen und Aspiranten Erfahrungswissen, entwickeln in ihren Stammkorps «on the job» die im ersten Jahr erworbenen Basiskenntnisse und -fähigkeiten zu Können, also zu Berufskompetenz. Wie weit diese gediehen ist, wird dann am Ende des zweiten Jahres in der Berufsprüfung «Polizist/Polizistin mit eidgenössischem Fachausweis» überprüft.
Einheitlicher, länger – und besser
Das zweite Kernstück des BGK 2020 ist die Formulierung national verbindlicher Richtlinien für die polizeiliche Berufsbildung. Die zugehörigen Standards definieren der Ausbildungsplan Polizei (APP) und das Qualifikationsprofil Polizistin/Polizist. Die beiden Dokumente formulieren wesentliche Ziele, Inhalte, Instrumente und Methodik der Polizeiausbildung, welche künftig verstärkt auf Aneignung effektiver «Kompetenz für den Berufsalltag» fokussiert. Reto Habermacher, Direktor des SPI, erklärt dazu: «Die Polizeiausbildung wird nicht nur einheitlicher und länger, sondern auch in gleich dreierlei Hinsicht besser. Erstens gewinnen Handlungs- und Kompetenzorientierung an Gewicht. Zweitens stehen selbstorganisiertes und -reflektiertes Lernen verstärkt im Zentrum. Drittens setzen die Themen «Werte» und «Ethik» wichtige Akzente einer zukunfts- und erfolgsorientierten Polizeiarbeit.»
Der neue Ausbildungsplan Polizei (APP)
All dies ist im APP anschaulich erläutert. Der wurde unter Projektleitung des SPI erarbeitet – unter engem Miteinbezug der Polizeikonkordate, der RAZ sowie der Militär- und der Trans-
portpolizei SBB – und orientiert sich am Bundesgesetz und an der Verordnung über die Berufsbildung (BBG 2002, BBV 2003) sowie an der künftigen Prüfungsordnung über die eidgenössische Berufsprüfung für Polizist/in (2020). Überdies berücksichtigt er den Rahmenlehrplan für Polizist/Polizistin (2014). Spannend dabei ist Folgendes: Der APP definiert zwar national gültige Standards, gesteht den Lernorten, also den RAZ und den Korps, aber Freiheiten punkto Methodenvielfalt und der konkreten Umsetzung der Vorgaben zu.
«Lernen ist vielschichtig, kreativ, individuell. Zu starre Raster stehen Lernerfolgen im Weg. Daher schafft der APP Raum für Lehrfreiheit», erklärt Stefan Aegerter, Vizedirektor des SPI. Er betont aber auch, dass ungeachtet dieser nötigen Freiräume landesweit einheitliche Normen und Rahmenbedingungen für faire, eindeutig bewertbare Prüfungen unabdingbar seien: «Es sind ja letztlich die nationalen Standards und auch Vorgaben des SBFI, die einem eidgenössischen Abschluss Berechtigung verleihen.»
Entsprechend formuliert der APP übergeordnete Ansätze guter Bildung und definiert wesentliche Eckpunkte. Auch für – und das ist der dritte Kernpunkt und eine wichtige Innovation – «eine intensive und frühzeitige Vermittlung ethischer, moralischer und menschlicher Werte», also eines eigentlichen «Kodex für gute Polizeiarbeit». Projektleiter Reto Habermacher erklärt dazu: «Einerseits existiert ein verfassungsgemässer polizeilicher Grundauftrag, andererseits garantiert der Staat die Grundrechte. Für Polizeikräfte bedeutet dies einen steten Zwiespalt respektive Spagat: Sie sorgen für die Wahrung der Grundrechte, müssen diese aber in Erfüllung ihres Auftrags bisweilen bewusst einschränken, namentlich bei Anwendung von Zwangsmassnahmen. Polizistinnen und Polizisten müssen verschiedenste Situationen und Szenarien ad hoc korrekt einschätzen, um adäquat agieren zu können. Das bedingt häufig, dass sehr schnell sehr klare Entscheide zu fällen sind – mit teils gravierenden Folgen. Das macht Polizeiarbeit komplex und anspruchsvoll. Wir wollen daher bereits in der Ausbildung die für gute Polizeiarbeit unerlässlichen Werte und Normen, Prinzipien, Leitbilder und Kodizes vermitteln.»
Zweistufiges Berufsbildungskonzept
Das BGK 2020 verfolgt ein zweistufiges Ausbildungskonzept. Phase 1, im RAZ, dient der Grundausbildung, basierend auf drei Säulen: Fachwissen, Handlungstrainings und Reflexion. Präsenzunterricht, Selbststudium sowie Trainings im Dojo, auf dem Schiess- oder Sportplatz werden kombiniert – und kompetenzorientiert gestaltet, erklärt Aegerter: «Qualitativ hochwertige Ausbildung folgt einem Lernprozess: Man eignet sich Fähigkeiten oder Wissen an, übt die Anwendung im geschützten Rahmen, festigt und reflektiert das Erlernte – bis korrektes Handeln das Vorliegen von Kompetenz belegt.» Flankiert wird die erste Phase, die als Richtwert 1’200 Lektionen umfasst, durch korpsspezifische Ausbildungen und Praktika im Umfang von neun bis 15 Wochen. Am Ende steht die Prüfung Einsatzfähigkeit (PEF). Stefan Aegerter: «Die PEF überprüft, ob die Lernenden die Einsatzfähigkeit besitzen, also bereit sind für den Wechsel ins Stammkorps. Nur wer besteht, darf die zweite Ausbildungsphase in Angriff nehmen.»
In dieser stehen der Erwerb und die Konsolidierung von Erfahrungswissen, also «Learning by Doing» und der Aufbau beruflichen Könnens in allen Bereichen der Polizeiarbeit, im Zentrum. «Es geht um soziale und kommunikative Fähigkeiten, die korrekte Anwendung von Recht, um Rettung, Hilfeleistung, Eigensicherheit, um sichere Teilnahme am Strassenverkehr und vieles mehr», erklärt Reto Habermacher. Dabei sollen innovative Praxisinstrumente den Erwerb effektiver «Kompetenz» ermöglichen. «Die angehenden Polizeikräfte führen selbstverantwortlich Praxisaufträge durch. Diese repräsentierten 20 typische Arbeitssituationen – welche in enger Abstimmung mit den Kantonen definiert wurden und landesweit einheitlich sind. Für jeden Praxisauftrag gibt es ein Kompetenzraster. Dieses erlaubt den Lernenden eine Selbstbeurteilung und -reflextion. Fremdbeurteilungen liefern die zugehörige Aussensicht – und die allfälligen Abweichungen weisen den Weg zu Verbesserung und Konsolidierung des Könnens», erläutert Habermacher.
Die dabei nötige Begleitung und Betreuung der «Künftigen» übernehmen «Erfahrene» aus den Stammkorps. Dabei kommen zwei Rollen zum Zug: erstens Praxisbegleiter/innen, welche die Lernenden instruieren, Rückmeldungen zu den Praxisaufträgen geben und Einführungs- sowie Zwischengespräche durchführen. Zweitens Mentorinnen und Mentoren, welche über die gesamte Ausbildungszeit hinweg den Lernprozess betreuen, überwachen und steuern – vom Einführungspraktikum im ersten Jahr bis zur Berufsprüfung am Ende des zweiten Jahres. «Die Mentorinnen und Mentoren sind zentrale Anlaufstelle für inhaltliche und organisatorische Fragen sowie Vermittler und Stütze. Sie helfen den Lernenden situativ, eruieren die Ursache von Schwierigkeiten und helfen, diese auszuräumen, etwa durch gezielte Fördermassnahmen», ergänzt Aegerter.
Digitale Hilfsmittel für den Kompetenzaufbau
Während die polizeiliche Grundausbildung in der ersten Phase überwiegend im Schulzimmer oder auf Übungsgeländen sowie meist unter konkreter Anleitung erfolgt, erhalten in der zweiten Phase Selbstorganisation und Selbstreflextion des Lernens hohes Gewicht. Dabei setzt das SPI erstmals in der Geschichte der Schweizer Polizeiausbildung auch digitale Hilfsmittel auf der nationalen Bildungsplattform NBPP (edupolice.ch) ein: Für die Bearbeitung der Praxisinstrumente und für die Ausbildung der Prüfungsexperten sowie der im Mentoring und der Praxisbegleitung tätigen Personen setzt die Trägerschaft unter anderem auf Elemente der Schweizer Lernumgebung «Konvink» (siehe Seite 27).
Die Korps sind gefordert
Wie stets, wenn neue Wege beschritten werden, gilt: Aller Anfang ist schwer. Namentlich stehen die Korps vor Herausforderungen. Einerseits gilt es, geeignete Personen für die Praxisbegleitung und das Mentoring aufzubauen – also auszubilden. Andererseits sind Kreativität und das nötige Know-how für die Entwicklung einer attraktiven und effizienten zweiten Phase der Ausbildung vonnöten. «Das SPI weiss um die Chancen, aber auch die Herausforderungen, denen die Korps gegenüberstehen. Und wir werden den dabei nötigen Support und Austausch anbieten», verspricht Reto Habermacher.
Fazit: eine grosse Idee
Die Idee hinter dem BGK 2020 ist so schlüssig wie potenziell mächtig. Zentral wird es sein, ob eine zu befürchtende Verwässerung der Ziele vermieden werden kann und die angestrebte Harmonisierung in den Korps effektiv gelebt wird. Träte dies ein, wäre der Beweis erbracht, dass das Konzept «national einheitliche und verbindliche Standards mit föderalistischen Spielräumen» funktioniert. Dann würde das BGK 2020 allen Blaulichtorganisationen den Weg zu mehr Effizienz und Transparenz weisen. In der Berufsbildung und weit über diese hinaus.