Die eigenen Grenzen ausgelotet – und viele andere Grenzen überwunden
Seit 2003 kommen beim jährlichen «Kristallschiessen» fast 120 Angehörige von Polizeien, Grenzwachtkorps, privaten Sicherheitsdiensten und dem Militär aus vier Nationen zusammen. Sie loten die Grenzen der persönlichen Schiessfertigkeit aus – und pflegen den Austausch und die Kameradschaft über Korps-, Institutions-, Kantons- und Landesgrenzen hinweg.
Von Jörg Rothweiler (Text und Fotos)
Als die Schiesssektion der Luzerner Polizei anno 2003 das «Kristallschiessen» ins Leben rief, bei dem 47 Angehörige nationaler Polizeikorps in der Kiesgrube des DSV 357 im luzernischen Eschenbach im dynamischen Polizeischiessen gegeneinander antraten, war Internationalität für die Organisatoren noch kein Thema. Initiant Matthias Jurt, damals Ausbildner bei der Polizei, wollte «eigentlich nur das damals gerade im Entstehen befindliche, in Polizeikreisen aber noch weitgehend unbekannte dynamische Verteidigungsschiessen auch bei der Schweizer Polizei «salonfähig» machen».
Inoffizielle Europameisterschaft des dynamischen Polizeischiessens
Heute freilich ist das unter dem Begriff «IPSC» gefasste dynamische Schiessen, bei dem sich die Schützen durch einen Parcours bewegen und betont praxisnah üben, längst eine international anerkannte und respektierte Spielart des Sportschiessens. Im selben Zeitraum hat sich das Kristallschiessen (so benannt nach dem Wanderpokal, den ein grosser Kristall ziert) zu einem internationalen Traditionsanlass gemausert, an dem jährlich nahezu 120 Schützinnen und Schützen, allesamt Berufswaffenträger, aus vier Nationen (Schweiz, Deutschland, Österreich und Luxemburg) teilnehmen.
Organisiert wird das Kristallschiessen seit 2015 vom «Verein Kristallschiessen», der für die Durchführung auf ein Militärgelände nahe Luzern zurückgreifen kann. In dessen Kurzdistanz-Boxen werden temporär sieben bis acht unterschiedliche Parcours (sogenannte Stages) errichtet. Sie alle sind bisweilen fantasievoll, aber dennoch stets betont praxisnah gestaltet. Immerhin sollen im Wettkampf (Gefahren-) Situationen, in den Polizei- oder Sicherheitskräfte gezwungen wären, ihre Waffe zu benutzen, möglichst trainingseffizient inszeniert werden.
Schiessen unter «erschwerten» Bedingungen
So müssen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mal beidhändig, mal einhändig schiessen (starke Hand, schwache Hand), eine Puppe (verletzter Kamerad) aus einer bedrohlichen Lage evakuieren, aus einer Deckung oder ungewöhnlichen Positionen heraus Ziele bekämpfen oder in ihnen unbekannten Räumen eine «Geiselnahme» beenden. Viele Faktoren werden dabei simuliert: Der regelkonforme, absolut sichere Umgang mit der eigenen Dienstwaffe, zuverlässige Freund-Feind-Erkennung auch bei sich rasch ändernden Licht- und Sichtverhältnissen oder korrektes Verhalten für den Fall, dass ein Ziel nicht zweifelsfrei identifiziert werden kann, sind nur einige davon. Alle Übungen werden zudem gegen die Stoppuhr absolviert, was die Schwierigkeit steigert und die Vergleichbarkeit bei gleich guter Trefferlage sicherstellt.
Die eigen Grenze setzt den Massstab
Wer beim Kristallschiessen also gewinnen will, muss an seine Grenzen gehen. Körperliche und mentale Fitness, überragende Beherrschung der Dienstwaffe (also regelmässiges Training) und Sattelfestigkeit bezüglich aller Facetten des dienstlichen Schiessens sind essenziell. Zudem muss die Tagesform stimmen und Stressresistenz sowie höchste Konzentrationsfähigkeit sind unerlässlich. Denn: Der Wettkampf läuft «Mann gegen Mann», also mit Einzelwertung, wobei seit 2005 eine separate Damenwertung durchgeführt wird.
Grenzüberschreitender Austausch
Ungeachtet der dadurch heraufbeschworenen Rivalität zwischen den Starterinnen und Startern herrscht in den Vorbereitungszonen, beim gemeinsamen Mittagessen und abseits der Stages eine von Kameradschaft, Offenheit, Neugierde und sportlicher Fairness geprägte Atmosphäre. Wer über den Platz schlendert sieht allerorten lachend Gesichter, Rivalen, welche sich gegenseitig Tipps geben oder in intensive Gespräche vertiefte Teilnehmer/innen, meist aus unterschiedlichen Korps.
«Mindestens so wichtig wie der persönliche sportliche Erfolg ist für mich – und ich glaube, da spreche ich wohl auch für alle anderen – der Austausch unter Gleichgesinnten. Die Gemeinsamkeit und das gegenseitige «voneinander lernen können du dürfen» sind ein ganz wesentlicher Erfolgsfaktor des Kristallschiessens», erklärt der Angehörige der österreichischen Sondereinheit «Cobra», welcher im Vorjahr den Kristallpokal erstmals in dessen Geschichte nach Österreich geholt hatte.
Auch viele andere Teilnehmer/innen sind überzeugt: Der Austausch über Korpsgrenzen hinweg, die Diskussionen und die Fachsimpelei mit Angehörigen anderer Einheiten, privater Sicherheitskräfte, des Militärs oder etwa der Grenzwacht, mit Kolleginnen und Kollegen aus dem In- und Ausland sind sehr wertvoll. «Ich kehre jedes Jahr mit neuen Eindrücken und Ideen nach Hause zurück, die ich dort einerseits ins Training einbauen, andrerseits aber in die tägliche Arbeit einbauen oder zumindest mit Kolleginnen und Kollegen diskutieren kann. Das bringt uns weiter. Zudem verkürzen die hier geschlossenen Kontakte oftmals den «Dienstweg» ganz entscheidend», erklärt eine Schweizer Teilnehmerin. Der deutsche Kollege, der neben ihr steht und aufmerksam zuhört, pflichtet ihr bei: «Ich profitiere jedes Jahr von der Teilnahme hier. Menschlich, sportlich und beruflich.»
Österreicher und Zürcher gewannen ...
So wundert es denn auch nicht, dass die zur Titelverteidigung angereisten «Cobras» und die «Skorpione» dieses Jahr das Kristallschiessen fast schon zum «Gemeinschaftsanlass» kürten, wie «Cobra 2» erklärt: «Wir reisten am Vorabend an und übernachteten in Zürich. Am Tag nach dem Wettbewerb sind wir zudem zu einer «kleinen Betriebsbesichtigung» bei der Stapo Zürich eingeladen. Entsprechend erleben wir gerade ein für uns alle wirklich spannendes und lehrreiches Wochenende.» Danach posieren die Zürcher Skorpione und die österreichischen Cobras für ein gemeinsames Foto – ehe sie wieder konzentriert um Punkte kämpfen – Jeder gegen Jeden.
... doch Stephan Bachmann siegte.
Am Ende jedoch haben beide Korps das Nachsehen: Es ist Stephan Bachmann (Kapo Freiburg), zweifacher Sieger von 2013 und 2017, welcher die Nase vorne hat – und so den 2018 an «Cobra 1» verlorenen Pokal zurückerobert. «Revanche geglückt», schmunzelt er – und «Cobra 1», dieses Jahr aufgrund einer einzigen schwach geschossenen Stage «nur» Dritter, klopft ihm auf die Schulter – und gratuliert auch «Dauer-Vize» Nathan Erdin (Kapo Aargau), der zum dritten Mal knapp geschlagen auf Rang 2 landet, ehrlich und herzlich.
Erster Sieg für eine GWK-Dame
Bei den Damen überwand Grenzwächterin Julie Mertenat, welche 2018 noch knapp am Podest vorbeigeschrammt war, jede bisherige Grenze. Die Mitarbeiterin der EZV aus der Romandie schoss präzise und schnell wie der Teufel. Am Ende wurde sie mit dem Sieg in der Damenwertung und dem 34. Rang belohnt. So viele Männer wie Julie liess bisher noch keine Dame beim Kristallschiessen hinter sich! Auf Rang 2 folgte Isabella Zurfluh von Luzerner Polizei, die zweifache Siegerin von 2013 und 2017. Bronze ging an Cathia Frei von der Police cantonal Vaudoise.
Bestes Teams und andere Highlights
Den Titel des erfolgreichsten Teams 2019 (Top-Drei jedes Teams gewertet) sicherte sich die Polizei Vorarlberg vor den «Cobras» von der Bundespolizei Österreich und dem Team der Kapo Zürich. Den «Titel» des grössten Teams holte mit 18 Startern die Stapo Zürich, welche Rang 4 der Teamwertung belegte. Bester Vertreter Deutschlands war Jochen Richter (Kollath e.K.; Kristallschiessen-Sieger von 2014) auf Rang 14 und Nico Crelo von der Polizei Lëtzebuerg (Rang 50.) hielt einmal mehr die Fahne Luxemburgs hoch.
Nach der zweimaligen Entführung des grossen Kristalls nach Deutschland (2014) und Österreich (2018) wartet der dunkelrote Steinpokal nun also im Kanton Freiburg bei Stefan Bachmann auf den Herbst 2020. Dann heisst es beim 18. Kristallschiessen wieder: «Feuer frei aus mehr als 100 Rohren». Interessierte finden alles Wissenswerte zu Teilnahme, Bedingungen, Anmeldung und Geschichte des Traditionsanlasses auf www.kristallschiessen.ch.
Wissenswert
Zehn essenzielle Fakten zum Kristallschiessen
- Das Kristallschiessen gilt mit Teilnehmern aus vier Nationen (D, A, CH, LUX) als die «inoffizielle Europameisterschaft des dynamischen Polizeischiessens».
- Das Kristallschiessen wurde von der Schiesssektion der Kapo Luzern ins Leben gerufen und fand 2003 erstmals statt – in der Kiesgrube des DSV 357 im luzernischen Eschenbach und mit 47 Angehörigen nationaler Polizeikorps.
- 2005 wurde die Kategorie «Damen» eingeführt – mit eigener Wertung.
- 2011 eroberte mit den Frauen der Polizei Niederösterreich erstmals ein Nicht-Schweizer Team den kleinen Kristall. Diesen Erfolg wiederholten die Niederösterreicherinnen 2012 und 2015 nochmals!
- 2013 und 2014 fand der Event im Trainingszentrum Aabach der Interkantonalen Polizeischule in Hitzkirch (IPH) statt.
- 2014 entführte Jochen Richter vom Sicherheitsdienst Kollath e.K. den grossen Kristall erstmals ins Ausland – nach Deutschland.
- 2015 übernahm der «Verein Kristallschiessen» die Organisation des Events. Dieser hat seit diesem Jahr einen neuen, aus neun Personen konstituierten Vorstand.
- 2018 ging der grosse Kristall erstmals in seiner Geschichte nach Österreich.
- Bei den bisher 17 Austragungen stellte die Schweiz 15 Mal den Sieger und 12 Mal die Siegerin.
- Beim diesjährigen Anlass wurden annähernd 13'000 Schuss 9-mm-Munition abgefeuert. Die Gesamtmasse der Projektile betrug etwas mehr als 100 Kilogramm.