Böse Taten und schlimme Wahrheiten

Übergriffe, Drohungen und Gewalt gegen Angehörige von Behörden und Organisationen für Rettung und Sicherheit (BORS) bewegen aktuell diese selbst, aber auch die Medien. Wird übertrieben, beschönigt oder beschwichtigt? Eine Analyse.

© Rolf Weiss/zVgJohanna Bundi Ryser, Präsidentin des VSPBJohanna Bundi Ryser, Präsidentin des VSPB«Wie lange noch?» So lautet, etwas überspitzt formuliert, die Frage, die der Verband Schweizerischer Polizeibeamter VSPB auf seiner Website im «Brennpunkt: Gewalt gegen Polizeibeamte» an den Bundesrat stellt. Denn, so der VSPB, ungeachtet aller seit 2009 angestrengten Bemühungen bezüglich dieser Thematik sei seitens Bundesbern herzlich wenig bis nichts in dieser Sache geschehen. Zitat: «Der Bundes­rat zaudert, zieht seine Botschaften zurück und blockiert die Arbeit im National- und Ständerat. Aus unserer Sicht grenzt das fast schon an Begünstigung!»

Der Unmut ist verständlich – und wird durch zahlreiche Vorfälle, von denen die spektakulärsten in den Medien aufscheinen, befeuert. Doch wie ernst ist die Lage tatsächlich? Recherchen zeigen: Abseits jeder Emotionalität, die das Thema «Gewalt gegen BORS» zwangsläufig weckt, zeichnen die Statistiken ein teils erschreckendes, partiell zwiespältiges und bisweilen überraschendes Bild.

Fakt 1: Die Zahlen steigen

Laut der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) waren 2018 mit 3’047 und 2017 mit sogar 3’102 Fällen von Gewalt, Drohung und Tätlichkeiten gegen Beamte neue Rekordjahre. Von 2009 bis 2018 stiegen die Fallzahlen um fast 30 Prozent  und die Gesamtzahl von Straftaten «gegen die öffentliche Gewalt» um gar 41,7 Prozent (siehe Grafik Seite 29). 10'615 Fälle anno 2018 bedeuten im vierten Jahr in Folge einen neuen Höchststand. Die Beschöniger und Beschwichtiger können also wegtreten! Die Zahlen sind eindeutig.

Fakt 2: Polizei bleibt Feindbild Nummer eins

Nicht ganz so dramatisch ist die Entwicklung bei Sanität und Feuerwehr. Zwar werden auch sie durchaus verbal oder gar physisch attackiert. Doch die Fallzahlen sind tiefer und steigen weniger stark. Urs Eberle, Mediensprecher von Schutz & Rettung Zürich: «Laut internen Statistiken liegen die Fallzahlen bei weniger als einem Prozent der Einsätze. Einerseits stehen Rettungskräfte weniger im Fokus gewaltbereiter, teils (gesellschafts-)politisch motivierter Kräfte als Polizistinnen und Polizisten. Andererseits nehmen sie erlebte Übergriffe unterschiedlich wahr und melden sie möglicherweise nicht, was die Verlässlichkeit der Zahlen beeinflussen kann.» Urs Bächtold, Direktor des Schweizerischen Feuerwehr­verbands, beklagt vor allem eine erschreckende Empathie- und Respektlosigkeit seitens vieler Menschen. «Wann immer wir eine Strasse sperren oder eine Umleitung einrichten müssen, werden wir beleidigt und beschimpft», stellt er fest. Allerdings beschränkten sich Übergriffe bisher meist auf verbale Entgleisungen. «Konkrete Gewalttaten gegen Feuerwehrleute sind uns gottlob bisher nicht bekannt», sagt er.

Fakt 3: Hohe Dunkelziffern

Das Problem mit den Dunkelziffern kennt auch VSPB-Präsidentin Johanna Bundi Ryser. Sie selbst ist seit Jahrzehnten Polizistin, war zudem bei der freiwilligen Feuerwehr und im Sanitätseinsatz aktiv. Sie sagt: «Ich habe selbst erfahren, wie oft Betroffene ‹die Faust im Sack› machen, negative Erlebnisse nur ‹mental abhaken›, statt diese anzuzeigen.» Daher sei mehr Unterstützung seitens Vorgesetzter, Korps und Verbänden eminent: «Jeder Arbeitgeber muss seine Mitarbeitenden vor Übergriffen, Gewalt und Drohungen schützen. Tritt dennoch ein Fall ein, müssen Betroffene Betreuung, Schutz und juristischen Beistand erhalten, damit Ansprüche durchgesetzt und Täter bestraft werden können.» Derselben Ansicht ist SP-Nationalrätin Priska Seiler-Graf, Mitglied der sicherheitspolitischen Kommission und der parlamentarischen Gruppe Polizei. Sie sagt: «Übergriffe und Gewalttaten müssen immer angezeigt werden. Nur so spüren die Täter, dass ihr Handeln Konsequenzen hat. Die Furcht vor einer Anzeige wirkt abschreckend. Daher sind Anzeigen auch Präventionsarbeit, die ich als ebenso wichtig erachte wie Repression.»

Fakt 4: Gewalt ist sehr individuell

So hoch wie die Dunkelziffern ist die Unsicherheit hinsichtlich der Ursachen der Problematik. Urs Eberle: «Die Gründe und situativen Parameter der Vorfälle sind so individuell wie das persönliche Erleben von Drohungen und Gewalt seitens der Betroffenen.» Natürlich sei häufig Alkohol- oder (seltener) Drogenkonsum im Spiel. Aber eben nicht immer. Zudem sei die «Dynamik der Masse» nicht zu unterschätzen. «Durch die gefühlte Stärke in der Gruppe reagieren Menschen anders und tun Dinge, die sie sonst lassen würden», sagt Eberle. Andererseits komme es auch ohne jedwede Gruppendynamik, im häuslichen Umfeld, im Rettungswagen oder Notfallraum zu Vorfällen.


Fakt 5: Spitzenreiter ist der Kanton Basel-Stadt

Laut der PKS 2015 bis 2018 sind Gewaltdelikte nirgendwo häufiger als in Basel-Stadt. Die Häufigkeitsquote von Gewaltstraftaten gegen die öffentliche Gewalt sowie von Drohung und Gewalt gegen Beamte liegt dort mit 13 respektive 1,75 Promille (‰) deutlich über dem Durchschnitt (5,1 und 0,4 ‰). Dazu sagt Toprak Yerguz, Mediensprecher des Justiz- und Sicherheitsdepartements Basel-Stadt: «Aus unserer Erfahrung gibt es dafür zwei Gründe: Erstens die Sogwirkung der Stadt und die Tatsache, dass wir ein Stadtkanton sind. Zweitens unsere Praxis des konsequenten Beanzeigens. Eine stringente Strafverfolgung schreckt ab und wirkt präventiv. Aber es werden natürlich mehr Fälle statistisch erfasst.»

Hinter Basel-Stadt folgten 2018 die Kantone Genf (8,1/0,5 ‰), Waadt (7,4/0,3), Zürich (6,4/0,4), Neuenburg (6,1/0,3), Schaffhausen (6,6/0,4), Freiburg (5,5/0,5) und Solothurn (5,5/0,2). Im Kanton Bern liegt die Quote bei 3,9/0,4 Promille – ähnlich wie im Aargau, im Thurgau und in Obwalden.

Fakt 6: Nicht nur Bern hat Probleme

Punkto Drohung und Gewalt gegen Beamte ist die Bundesstadt, nicht zuletzt wegen der Reitschule, seit Jahren in der PKS immer «vorne mit dabei». Ebenfalls viele Fälle meldeten 2018 Basel, Fribourg, Biel und – Luzern! Dazu sagt Erwin Rast-Schulz von der Abteilung Information und Kommunikation des Justiz- und Sicherheitsdepartements des Kantons Luzern: «Kantonsweit sind die Fallzahlen im mehrjährigen Vergleich konstant. Allerdings gab es 2018 eine markant höhere Anzahl geschädigter Personen. Es sind ein Mangel an Respekt und eine latente Gewaltbereitschaft gegenüber Po­li­zis­tinnen und Polizisten erkennbar – insbesondere bei Grossveranstaltungen.» Diesbezüglich habe sich die verbesserte Ausrüstung bewährt, sagt Rast: «Bedrohliche Situationen können oft allein durch Androhung des Taser-Gebrauchs entschärft werden.»

Fakt 7: Täter sind männlich und über 24-jährig

Laut der PKS sind die Täter meist männlich (85 %) und älter als 24 Jahre (66 %). Mit einer Wahrscheinlichkeit von 43 bis 45 Prozent sind sie Ausländer. Von diesen zählt etwa die Hälfte zur ständigen Wohnbevölkerung. Dieses «Täterprofil» hat sich seit 2009 nur marginal verändert – und ist mit jenem in unseren Nachbarländern vergleichbar.

Fakt 8: Die Schweiz ist nicht allein

Apropos Nachbarländer: Auch dort werden Übergriffe und Gewalt gegen BORS häufiger. Hier wie dort gilt: Die Sitten verrohen, der «Respekt vor der Uniform» sinkt, mangelnde Achtung vor dem Gegenüber wird immer häufiger. Über die Ursachen dafür wird spekuliert – an den Stammtischen, in Talk- und Expertenrunden und auf Regierungs- und Gesetzgeberebene. Dabei wagte Deutschland punkto mehr Repression den ersten Schritt.

Fakt 9: Deutschland hat reagiert

Im Mai 2017 wurde zur «Stärkung des Schutzes von (Polizei-)Vollstreckungsbeamten (PVB) und Rettungskräften» der neue Straftatbestand «Tätlicher Angriff auf VB» (§ 114 StGB) geschaffen, verbunden mit einer Strafandrohung von drei Monaten bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe. Der Begriff «tätlicher Angriff» definiert sich dabei als «(...) feindselige Einwirkung, bei der eine Verletzung weder eintreten noch beabsichtigt sein muss». Das heisst: Allein das Handeln in staatsfeindlicher Willensrichtung ist massgeblich und ausreichend. Neben Stein- und Flaschenwürfen sind auch leichtere Formen körperlicher Gewalt wie Schubser oder Ohrfeigen strafrechtlich relevant. Laut dem «Bundeslagebild, Gewalt gegen PVB 2018» fielen 11’704 von 33’260 Fällen von «Widerstand gegen und tätlicher Angriff auf PVB» unter §114 StGB, werden also härter beurteilt und bestraft.

Fakt 10: Die Schweiz diskutiert weiter

In der Schweiz wird derweil weiterdiskutiert. Dabei herrscht selbst innerhalb der Lager Uneinigkeit. SP-Ständerat und Strafrechtsspezialist Daniel Jositsch hält eine Erhöhung des Strafrahmens für weder angemessen noch zielführend. Die Gerichte müssten einfach den bestehenden Strafrahmen besser nutzen. Kritiker dieses Kurses indes fordern: «Rauf mit dem Mindeststrafmass!», damit Richter an härteren Urteilen gar nicht mehr vorbeikommen. VSPB-Präsidentin Johanna Bundi Ryser sagt: «Ich setze grosse Hoffnungen auf die neue EJPD-Chefin Karin Keller-Sutter. Sie kann die Chance nutzen, um aus der fast schon lethargischen Antwortroutine der letzten Jahre herauszukommen, wonach man definitiv was machen muss, aber jetzt der falsche Zeitpunkt sei. Ich glaube und erwarte, dass sie im Bundesrat klarmachen wird, dass endlich ein längst überfälliges Zeichen zu setzen ist. Dieses muss lauten: ‹Wer jene angreift, die den Staat vertreten, wird so bestraft, als würde er den Staat angreifen.› Dazu gehören Mindeststrafen, die richtig wehtun.»

Das glaubt auch Nationalrätin Priska Seiler-Graf. Sie favorisiert dabei aber einen dualen Ansatz: «Es sind die spektakulären, in den Medien breit dargelegten Fälle, welche die Diskussion befeuern und die öffentliche Meinung begründen. Ich finde aber: Die schleichende Verrohung der Sitten in der Breite ist doch das eigentliche Pro­blem.» Mehr Abschreckung durch höhere Mindeststrafen könne diese eindämmen helfen, würde ein klares Zeichen setzen. Doch das allein sei nicht genügend. «Es braucht parallel zu Strafen wirksame Präventionsmassnahmen wie Community Policing, die das Ansehen der BORS steigern und die Bedeutung der von diesen geleisteten Arbeit für unsere Gesellschaft und jede/-n Einzelne/-n aufzeigen. So entstehen Achtung und Anerkennung, Vertrauen und Respekt. All dies aber ist der weitaus wirksamste Schutz vor Übergriffen.»

Fazit: Der Bundesrat muss endlich handeln

Seit 2009 macht der Bundesrat bei der Harmonisierung der Strafrahmen, welche Verschärfungen sowie Mindeststrafen für gewisse Delikte definieren soll, einfach nicht vorwärts. Seit zehn Jahren werden im Bundeshaus die Däumchen gedreht. Auch die im Dezember 2016 von Bernhard Guhl (BDP/AG) und Marco Romano (CVP/TI) im Nationalrat eingereichten parlamentarischen Initiativen, die für tätliche Angriffe auf Beamte mindestens eine dreitägige Haftstrafe fordern, sind bis heute hängig. Die Lethargie des Bundesrats in der Causa «Gewalt gegen BORS» ist unverständlich, ja geradezu eine Unverschämtheit gegenüber den BORS, welche der zunehmenden Gewalt schutzlos ausgeliefert werden. Es scheint, als habe der Bundesrat nicht begriffen, dass ein Staat, der seine Vertreter nicht wirkungsvoll zu schützen vermag, dereinst selbst schutzlos sein wird – und mit ihm seine Bürgerinnen und Bürger. Das will freilich niemand. Daher ist die Zeit reif, endlich zu handeln.

Die übelsten Fälle der jüngeren Vergangenheit

2. Juni 2019:
In Zürich verprügelt ein 18-Jähriger im Zürcher Niederdorf einen Polizisten. Umstehende feuern den Straftäter an, beleidigen die Polizisten aufs Übelste.

26. Mai 2019:
Vor einem Luzerner Klub versperrt am frühen Morgen ein 20-Jähriger drei Polizisten, die nach einem Einsatz wegfahren wollen, den Weg, beschimpft und bedroht sie verbal, schlägt dann einem Polizisten mit der Faust ins Gesicht. Als die Polizisten ihn vor Ort festhalten, schlägt seine 27-jährige Begleiterin ebenfalls auf die Polizisten ein.

22. Mai 2019:
Nach einem Geisterspiel zwischen GC und Sion im Letzigrund kommt es beim GC-Fanlokal «Sächs Foif» im Zürcher Kreis 5 zu einem Polizeieinsatz, bei dem Flaschen fliegen. Gleichentags werden Rettungssanitäter der Sanitätspolizei Bern, die zu einem Einsatz auf die Grosse Schanze gerufen wurden, von zwei Personen tätlich angegriffen und verletzt.

19. Mai 2019:
Rund um das «alternative Kulturzentrum» Reitschule in Bern errichtet und entzündet ein Mob Strassenbarrikaden. Polizei und Feuerwehr werden mit Steinen, Flaschen und Laserpointern attackiert. Tränengas, Gummischrot und Wasserwerfer werden eingesetzt. Bilanz: Zwei Polizistinnen und acht Polizisten verletzt; drei Autos und zwei Velos abgefackelt. Elf Personen wurden angehalten; fünf waren bereits polizeilich ausgeschrieben. Am selben Tag werden nach dem Fussball-Cupfinale in Basel an mehreren Orten in Basel Polizisten und Sanitäter attackiert. Bilanz: drei Verletzte (zwei Polizisten und eine unbeteiligte Frau). Bereits zuvor hatten Vermummte die Heckscheibe eines Polizeiautos mit Steinen zerstört.

17. Mai 2019:
Am Zuger Kolinplatz werden gegen Mitternacht zwei zu Fuss patrouil­lie­rende Sicherheitsassistenten der Zuger Polizei von einer Gruppe bedrängt und verbal provoziert. Als die Einsatzkräfte einen besonders renitenten 23-jährigen Schweizer mit aufs Revier nehmen wollen, werden sie tätlich angegriffen, wobei einer der Beamten verletzt wird.

21. März 2019:
Bei einer Drogenrazzia im Bereich der Berner Reitschule werden Flaschen gegen die zivilen Einsatzkräfte geworfen und eine Person schlägt einem Polizisten das Handy aus der Hand.

26. Januar 2019:
In Zug rücken Polizisten wegen eines nackten Betrunkenen, der Gegenstände gegen fahrende Autos wirft, aus. Dessen Bruder stösst einen Polizisten von hinten so brutal zu Boden, dass dieser einen Nasenbruch erleidet.

18. August 2018:
An der Zürcher Seepromenade werden Polizisten, die Sanitäter begleiten, um einem 18-Jährigen, der niedergestochen und lebensgefährlich verletzt worden war, zu helfen, mit Flaschen und Steinen beworfen. Die Sanitäter verschanzen sich im Rettungswagen und können nicht helfen, bis der Mob gebändigt ist. Gleichentags werden bei der After-Party zur Jungle Street Groove im Hafen Kleinhüningen von der Sanität Basel angeforderte Sanitäter des DRK Lörrach so stark behindert, dass sie mit dem RTW nicht bis zum Patienten vordringen können. Der Mob rüttelte am Rettungsfahrzeug, den Einsatzkräften wurden blanke Hintern gezeigt, andere öffneten von aussen die Türen des RTW. Erst Polizisten ermöglichen es den Rettern, sicher bis zum Einsatzort zu gelangen.

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