Einsätze beim Training realitätsnah digital simulieren? Auf «Streife» Brillen tragen, auf denen sich Informationen in Echtzeit einspielen lassen? Das ist wohl bald Realität. Die rasante Entwicklung von VR- (Virtual Reality) und AR- Werkzeugen (Augmented Reality) für Blaulichtorganisationen ist in vollem Gange.
Noch muss ein Polizist seine Schiesstrainings am Schiessstand absolvieren oder die Feuerwehr spielt Gefahrensituationen in aufwendigen realen Übungen durch.
Doch der Wandel steht bevor: Die rasanten Entwicklungen digitaler Technologien, die nicht selten schon in Kinderzimmern oder auf Smartphones zu finden sind, werden langsam so professionell, dass sie sich auch für den Einsatz bei Blaulichtorganisationen eignen.
Die Rede ist von Augmented Reality (AR) und Virtual Reality (VR). In verschiedenen Ländern Europas laufen bereits Tests mit derartigen Werkzeugen. Beispielsweise werden Polizisten während des Streifengangs über spezielle Brillen mit Kontextinformationen versorgt. Oder Feuerwehrleute lassen sich von solchen Brillen sicher durch verqualmte Gebäude zu Gefahrenherden führen.
Zudem werden Ernstfälle und denkbar gefährliche Konfrontationen wie auch harmlose Routineeinsätze des Polizeialltags in Simulatoren nachgestellt und wie in einem Game durchgeprobt.
Unter anderem ist in den Forschungsrahmenprogrammen «Horizon 2020», an denen auch die Schweiz beteiligt ist, das Projekt AUGGMED (Automated Serious Game Scenario Generator for Mixed Reality Training) gestartet worden. Noch handelt es sich um eine Plattform, die automatisch (sogenannte nicht-lineare) Szenarien generiert, die auf die Bedürfnisse auch von Auszubildenden in Blaulichtorganisationen zugeschnitten sind. Es geht darum, emotionales Management, analytisches Denken, Problemlösung und Entscheidungsfähigkeiten zu verbessern.
Geplant ist, diese Simulationen zu erweitern: Diverse Umgebungs- und Bedrohungsszenarien sollen genauso hinzukommen wie Schnittstellen zu Tools, welche die Übungsfelder beispielsweise über intelligente Brillen ausbauen. Das Betreten virtueller Welten, wie es bei jedem Gamen geschieht, soll also durch die Projektion von Informationen aus der realen Welt erweitert werden. So verbindet die Trainingsplattform zu Lernzwecken virtuelle Rekonstruktionen der realen Welt mit der Interaktion beispielsweise von virtuellen Terroristen in der realen Welt.
Die Schweiz spielt in ersten VR-Bereichen ganz vorne mit
Hierzulande wird das Thema VR und AR wohl am intensivsten in Zürich vorangetrieben. Jedenfalls bestehen beispielsweise bei der Kapo Bern offensichtlich noch keine Pilotprojekte. «Wir kennen die Technologien und beobachten sie, bis sie produktiv eingesetzt werden können», teilt die Pressestelle mit. Um nachzuschieben: «Weitere Angaben, etwa zu unseren Abklärungen, machen wir aktuell jedoch nicht.»
Ganz anders tönt es bei der Kapo Zürich. Dort nennt man konkret das Erstellen von Tatortdokumentationen und Tatortrekonstruktionen, wobei «VR möglicherweise helfen (werde), die vorhandenen Daten schneller als bisher zu verstehen und aufzubereiten».
In Zürich ist die Hightech-Verbrecherjagd im 3D-Zentrum Zürich (3DZZ) angesiedelt, das durch das Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich und das Forensische Institut Zürich – eine Organisation der Kantonspolizei und der Stadtpolizei Zürich – betrieben wird. Laut Kapo Zürich haben entsprechend Kriminaltechniker und Rechtsmediziner bereits erste Tatortbegehungen und Tatrekonstruktionen in VR durchgeführt. Und hier treibe man die forensische Anwendung dieser Technologie weiter voran, erklärt der Sprecher der Kapo Zürich, Florian Frei.
Statt Kreide und Massband kann hier also digitale Technik zum Einsatz kommen. Interessant ist dabei, dass sich die Daten der Polizei und der Rechtsmedizin digital zusammenführen lassen. Dazu liefern 3-D-Scanner eine 360-Grad-Anischt vom Tatort und verbessern die Beweissicherung. Mit einer digitalen Brille, ähnlich solchen, die unter Gamern beliebt sind, lassen sich auch im Nachhinein noch Tatortbegehungen durchführen.
Zürich: vor allem forensische Rekonstruktionen
Für die Kapo ist aber auch klar, dass VR sich für Polizeitrainings eignet. Es seien VR-Setups denkbar wie etwa ein «virtuelles Schiesskino, was komplexere Szenarien als bisher erlauben würde», so Frei. Denn VR erlaube, gefahrlos Stresssituationen zu erzeugen und zu analysieren, und sei damit generell geeignet, Trainingssituationen für komplexe Szenarien zu erstellen.
Doch «momentan gibt es noch Herausforderungen zu meistern, wie zum Beispiel die Kabelanbindung der Head Mounted Displays, der eingeschränkte Bewegungsradius sowie generelle optische und wahrnehmungspsychologische Probleme», wie er anfügt.
Heute befinde sich bereits die Grobrekonstruktion mittels VR in der Entwicklung, während die virtuelle Tatortbegehung und -rekonstruktion bereits eingesetzt wird, obwohl sie sich ebenfalls noch in der Entwicklung befinde, wie er anfügt.
Nicht ohne Stolz heisst es denn auch bei der Kapo Zürich, dass man mit dem 3DZZ beim VR-Einsatz für die Visualisierung von forensischen Rekonstruktionen sowie von virtuellen Tatortbegehungen nicht nur national, sondern auch international an vorderster Stelle stehe. «Im Gegensatz zu anderen forensischen Organisationen wird VR in Zürich in Teilen schon im Routinebetrieb verwendet», streicht Frei denn auch heraus.
Neben diesen Einsatzmöglichkeiten heisst es weiter, seien bereits erste Abklärungen gelaufen, um festzustellen, inwiefern eine smarte Brille «mit einem automatischen Gesichtsabgleich die Frontpolizei bei der Fahndung nach ausgeschriebenen Personen unterstützen könnte». Allerdings müssten hier vor «einer allfälligen Umsetzung die rechtlichen Fragen in Bezug auf die geltenden Datenschutzbestimmungen geklärt werden».
VR im Verkehrsunterricht
Fragt man bei den VR- und AR-Spezialisten in der Schweiz nach, werden die vielfältigen VR-Einsatzmöglichkeiten der Kapo Zürich durchwegs geteilt. So sagt Daniel Gremli, Mitgründer der Zürcher Firma Bandara, dass aktuell insbesondere VR für die Ausbildung von Blaulichtorganisationen spannend sei. «Auf VR-Brillen können Szenarien realitätsnah simuliert werden.»
Einsatzkräfte können alle relevanten Abläufe und Handgriffe trainieren, ohne sich dabei einer Gefahr auszusetzen, ist Gremlin überzeugt. «Mit der schnell fortschreitenden Entwicklung im Bereich AR wird es bald auch möglich sein, Einsatzkräften relevante Zusatzdaten anzuzeigen.»
Feuerwehrleute könnten auf AR-Brillen Informationen zum Gebäude erhalten, das sie löschen müssen, und so beispielsweise über den virtuellen Layer angezeigt bekommen, wo im Gebäude sich potenziell explosionsgefährdete Objekte befinden. Doch um diesen Schritt gehen zu können, fügt er an, müsste noch ein weiterer Entwicklungsschritt in der Hardware gemacht werden, der aber wohl in ein bis zwei Jahren erfolgt sei.
Bandara hat ein Pilotprojekt zusammen mit der Stadtpolizei Zürich und der Abteilung für Verkehrssicherheit der Stadt durchgeführt. Dabei haben die Experten für VR und AR in sechs Schulklassen im Verkehrsunterricht auf VR gesetzt. Entwickelt wurden 360-Grad-Schulungsfilme, die die Schüler direkt in die Rolle eines Velofahrers versetzten.
Trainiert wurde Gefahrenerkennung in alltäglichen Situationen wie sich öffnende Autotüren, abbiegende Autos oder von hinten herannahende Trams. «Das Erlebnis beim Betrachten dieser Filme mit der VR-Brille ist besonders realistisch und der Lerneffekt entsprechend gross», heisst es denn auch bei Bandara. Zudem habe der VR-Rückgriff insbesondere bei der Motivation der Schüler einen positiven Effekt gehabt.
AR auf dem Vormarsch
Beim Einsatz von AR setzt die in Schlüpfheim domizilierte Xtend Interactive auf den Bereich Identifikation. CEO und Partner Michael Schnyder sieht hier erhebliches Potenzial und verweist auf die Gesichtserkennung sowie die Identifikation von Gebäuden oder Objekten.
«Mithilfe herkömmlicher Kameras haben wir bereits jetzt die Möglichkeit, Pässe oder andere gedruckte Medien zu identifizieren und mit einer Datenbank abzugleichen», führt er aus. Moderne Kameras mit Infrarot-Technologie erlaubten zudem, Gesichter zu erkennen und sie Personen zuzuweisen.
Problematisch seien allerdings noch die benötigten Daten, obwohl Big Data schon verschiedenste Organisationen beschäftige. Es gehe darum, Daten zu sammeln, zu filtern und richtig einzusetzen. AR helfe zwar, die Erkennung durchzuführen, doch «ohne Daten macht die Technologie wenig Sinn». Gleichwohl plädiert Schnyder für den raschen Einstieg in die AR-Welt. Je früher man damit startet und sein Team sensibilisiert, desto mehr Chancen bestehen, ist er überzeugt.
«Wenn wir den Datenschutz ausser Acht lassen …»
Fragt man Reto Grob von Augment IT der Zürcher Software-Schmiede Netcetera nach VR- und AR-Szenarien für Blaulichtorganisationen, spricht er von einer derzeit nicht abschätzbaren Einsatzbreite und -tiefe. «Vor allem im Bereich AR ist die Technologie in einem rasanten Entwicklungsprozess.» Aktuell werde vor allem Bedarf im Bereich der Navigation von Fahrzeugen und Einsatzkräften angemeldet, um gezielter und schneller an den richtigen Ort zu gelangen.
«Ebenso interessant sind alle Arten von kontextrelevanten Zusatzinformationen in der Alarmzentrale oder vor Ort.» Allerdings sei die Business-AR-Szene gerade erst richtig am Entstehen.
«Wenn wir den Datenschutz mal ausser Acht lassen, dann ist technisch bereits sehr vieles möglich», meint Grob. So liessen sich etwa Autotypen eindeutig erkennen, um die Personenrettung bei Unfällen sicherer zu machen. AR erlaube, Kontrollschilder, Gesichter oder gar ganze Szenen auf der Strasse zu erkennen, um unterstützt von künstlicher Intelligenz richtig zu handeln.
Grob bezeichnet die Schweiz als innovativ und kreativ in diesem Bereich. Man habe mit Polizeikorps und Feuerwehren schon Proof of Concepts umgesetzt. Namen will Grob allerdings nicht nennen. Er verweist aber darauf, dass der Einsatz von AR «immer auch Anpassungen der Prozesse» bedingt, und fügt an: «Wenn die Blaulichtorganisationen jetzt die Veränderungen aktiv aufnehmen, bin ich überzeugt, dass auch die entsprechend spezielle Technik zeitnah zur Verfügung stehen wird.»
Sich jetzt dem Neuen widmen
Generell, fügt auch Grob an, seien Schulung und Ausbildung eines der naheliegenden Einsatzgebiete sowohl für VR wie auch für AR. «Bei AR kann in reellen Umgebungen mit Einsatzszenarien operiert werden, während bei VR vor allem Grundlagen geschult werden können.» Besonders im taktischen Bereich könne sehr viel mit AR trainiert werden, zumal sich unterschiedlichste Szenarien üben lassen und periodisch auch geprüft werden könnten. «Das alles ohne grosse Sachmittelaufwendungen, eventuell sogar geleitet von einem Ausbildner, der gar nicht vor Ort sein muss.»
Man habe schon früh mit diversen Polizeikorps und Feuerwehren in Innovationsworkshops Ideen, Möglichkeiten und Anforderungen aufgenommen, fügt er an. Daraus seien bereits Pilotprojekte entstanden, die nun in konkrete Projekte überführt werden und wo die Technologie somit produktiv eingesetzt wird. Auch Grob betont: «Wen nicht alle Projekte gleich produktiv eingesetzt werden, ist es wichtig, dass man sich jetzt damit auseinandersetzt und die operativen Anpassungen vorwärtstreibt.» Die Technologie sei in der Regel schneller bereit, als Verhaltensänderungen umgesetzt werden können.
Grob fordert, sich mit den Möglichkeiten, die in diesem technologischen Wandel schlummern, heute auseinanderzusetzen, «auch wenn noch nicht alles ausgereift ist». Wesentlich sei, zu erkennen, dass es immer organisatorische und prozessuale Anpassungen brauche. «Hier vor allem müssen alle Einheiten gemeinsam an Lösungen arbeiten, also Polizei, Feuerwehr, technische Dienste und Sanität.»
Dann, so Grob weiter, entstünden nutzenstiftende Lösungen, welche auch über die schon vorhandenen VR- und AR-Vorreiter hinaus von anderen Einsatzkräften im Sinne einer Harmonisierung genutzt werden können.