An der Patrouille des Glaciers, am härtesten Tourenskiwettkampf der Welt, stossen die Teilnehmenden ebenso an ihre Grenzen wie Blaulichtorganisationen bei einem Notfall. Sportpsychologe Dr. Hanspeter Gubelmann erklärt Zusammenhänge zwischen Extremsport und Blaulichteinsätzen.
Wie definieren Sie Extremsport?
Dr. Hanspeter Gubelmann: Eine messerscharfe Definition ist schwierig. Grundsätzlich geht es um eine sportliche Herausforderung im Grenzbereich physischer und psychischer Belastung in Verbindung mit hohen oder gar höchsten Risiken für Leben und Gesundheit.
Der deutsche Sportpsychologe Henning Allmer hat schon im Jahr 1995 eine noch heute gebräuchliche Systematisierung vorgeschlagen. Er schrieb: «Zusammengefasst sind für Extrem- und Risikosportaktivitäten ausserordentliche Strapazen, ungewohnte Körperlagen und -zustände, ungewisser Handlungsausgang, unvorhersehbare Situationsbedingungen und lebensgefährliche Aktionen charakteristisch.» Im Gegensatz zu früher ist Extremsport heute vermehrt medial inszeniertes, gesponsertes Spektakel.
Was sagt die Teilnahme an der Patrouille des Glaciers über die Psyche eines Teilnehmers aus?
Jede Sportart hat ein spezifisches mentales Anforderungsprofil. Die zentralen psychischen Fähigkeiten, die es braucht, um die Patrouille des Glaciers zu bestehen, sind aus meiner Sicht: Selbstvertrauen, ausgeprägte Willensfähigkeit, emotionale Robustheit und ein hohes Mass an Resilienz (psychische Widerstandsfähigkeit, die Red.).
Wer sich in sportliche Grenzbereiche der menschlichen Leistungsfähigkeit wagt, muss sich zwingend mentale Trainingsstrategien zugelegt haben. Dazu zählen unter anderem Aufmerksamkeitskontrolle, positive Selbstgespräche, Umgang mit negativen Gedanken und Emotionen, Selbstaktivierung sowie das Aneignen von leistungsunterstützenden Automatismen.
Wie kann ein Sportpsychologe einen Sportler beeinflussen – welche Techniken kommen dabei zur Anwendung?
Aufgrund des Anforderungsprofils der Extremsportart und angepasst auf die Bedürfnisse des Athleten wird der Sportpsychologe ein entsprechendes Trainingsprogramm entwickeln.
Beim Basejumping dürfte das Erreichen eines optimalen Vorstartzustands – also der Umgang mit Nervosität, die Visualisierung der Bewegungshandlung hinsichtlich optimaler Handlungsautomatisation und anderes mehr – im Vordergrund stehen.
Ein Extrembergsteiger würde vermehrt von Trainingsformen der Aufmerksamkeitsregulation – beispielsweise Konzentrationstraining – oder in der mentalen Bewältigung schwierigster Situationen – sogenanntes mentales Probehandeln – profitieren können.
Gehen Extremsport und die Teilnahme als Team an der Patrouille des Glaciers überhaupt zusammen?
Eigentlich schon. Je nach Witterungsbedingungen können die 110 Kilometer zur schier unüberwindlichen Prüfung werden. Zusätzlich wirkt ein starker Mythos mit Legenden und militärischer Geschichte mit, was dem Anlass noch weiteren Anreiz beschert. Hinzu kommt der ausgeprägte Teamgedanke – normalerweise sind Extremsportler Einzelkämpfer mit höchst egozentrischer Perspektive.
Was motiviert Extremsportler, an ihre Grenzen zu gehen?
Aus Fachliteratur und Aussagen der Protagonisten kennen wir verschiedene Gründe, weshalb Menschen derart an ihre Grenzen gehen wollen. Ein Kernelement dabei ist unsere Sensationslust. Wissenschaftler unterscheiden zwischen «Low Sensation Seeker» und «High Sensation Seeker».
Professionelle Extremsportler trainieren wie verrückt, um bei höchster sportlicher Leistung in ihrem Tun aufzugehen, um in diesem Flow-Zustand Rekorde zu brechen. Diese Lust nach immer schneller, immer höher, immer weiter gilt es, für den «High Sensation Seeker» immer wieder zu stillen. Dafür lohnen sich in ihren Augen auch gesundheitliche oder soziale Risiken.
«Höher, schneller, tot»: Weshalb haben Sie diesen Titel in einem Ihrer Blogbeiträge gewählt?
Ich finde diesen Titel schlimm! Ich wurde dafür auch ziemlich heftig kritisiert. Trotzdem stehe ich dazu, weil er einer inneren Logik folgt, die in Extremsportarten mit hohem Mortalitätsrisiko offenkundig ist. Im Höhenbergsteigen über 8000 Meter spricht man von der Todeszone, die unabhängig vom Trainingszustand des Bergsteigers ihre Opfer fordert.
Das kumulierte Risiko, wenn also ein rekordgetriebener Extremsportler immer wieder dorthin zurückkehrt, fordert leider oft im Alter über 40 Jahre seinen Tribut. Der renommierte Höhenmediziner Oswald Oelz bringt es auf den Punkt: «Irgendwann passiert es auch den Allerbesten. Irgendwann schlägt die Statistik zu.»
Nehmen Extremsportler den Tod in Kauf?
Für mich als Sportpsychologe eine sehr interessante Frage, die aber letztlich jeder Extremsportler für sich selbst beantworten muss. Fakt ist, dass jede Extrembergsteigerin oder jeder Basejumper mit dem Tod regelmässig konfrontiert wird – eben aufgrund wiederkehrender Hiobsbotschaften von tragisch verunglückten Kollegen.
Zudem gehe ich davon aus, dass sie mit ihren engsten Vertrauten und Lebenspartnerinnen über die hohen Risiken sprechen, die eben auch einen möglichen Unfalltod miteinschliessen. In seinem letzten Interview vor seinem tödlichen Absturz soll Ueli Steck gesagt haben: «Scheitern heisst sterben.»
Würden Sie einen Extremsportler unterstützen?
Jeder Sportler und jede Sportlerin kann zu mir kommen, um ein Gespräch zu führen. Bezüglich aktiver Unterstützung im Sinne einer längerfristigen Begleitung stosse ich an moralisch-ethische Grenzen. Die Zusammenarbeit mit einem Basejumper lehne ich kategorisch ab. Auch würde ich eine 17 Jahre alte Extremsportlerin, die bis zu ihrem 20. Lebensjahr alle 14 Achttausender besteigen möchte, nicht in diesem Anliegen unterstützen. Reizvoll wäre für mich hingegen die Aufgabe, einem 45 Jahre alten Extremalpinisten den Ausstieg aus seiner Karriere zu erleichtern.
Was meinen Sie mit moralisch-ethischen Grenzen?
Als angewandt tätiger Sportpsychologe begleite ich Athletinnen und Athleten in einem möglichst ganzheitlichen Vorbereitungsprozess, damit sie ihr Leistungsoptimum am Tag X, auch unter ungünstigen Voraussetzungen, erbringen können. Im Extremsport ist diese Leistungserbringung am Tag X gekoppelt an eine hohe Risikobereitschaft mit erhöhter Unfallgefahr.
Aus ethischer Sicht stellt sich mir die Frage: Dürfen wir Sportpsychologen dann das machen, was wir können? Darf ich dem Basejumper Mut zusprechen, wenn er einen gewagten Sprung in Lauterbrunnen wagen möchte – im Wissen darum, dass dort schon mehr als 40 Kollegen tödlich verunglückt sind?
Moralische Bedenken und Skrupel befallen mich, wenn ich mir vorstellen muss, in welche psychischen Nöte jene Menschen geraten können, die diese Tragödien hautnah miterleben. Ich denke da insbesondere an die involvierten Helferinnen und Helfer der Blaulichtorganisationen.
Extremsituationen können Menschen aus der Balance bringen. Nehmen auch Blaulichtorganisationen Ihre Hilfe in Anspruch?
Erstaunlicherweise nehmen nur wenige Blaulichtorganisationen meine Hilfe in Anspruch. An einer internationalen Militärkonferenz in Bern stellte ich kürzlich die Frage hinsichtlich einer Zusammenarbeit mit der Sportpsychologie – mehr als die Hälfte der aus rund 30 Nationen nach Bern gereisten Fachoffiziere bejahten diese Kontakte.
Vor einigen Jahren erhielt ich von der polizeilichen Sondereinheit Cobra (Ö) die Anfrage, psychologische Trainingstools für ihre Polizeikräfte zu entwickeln, die den mentalen Stress in Notfallsituationen trainieren lassen. Mit dem gleichen Anliegen ist unlängst ein Ausbildungsleiter einer interkantonalen Polizeischule an mich herangetreten.
Ähnlich wie im Spitzensport gilt auch im Blaulichteinsatz: Um im entscheidenden Moment einsatzbereit zu sein, braucht es mentale Stärke, die in systematischer, geplanter und kontrollierter Trainingsarbeit entwickelt wird.
Damit die getroffenen Massnahmen im Notfall greifen, spielen Blaulichtorganisationen Abläufe regelmässig durch. Gibt es eine Checkliste, damit sich Piloten, Ärzte oder Mitarbeitende in psychosozialen Berufen im Ernstfall richtig verhalten?
Die Notfallpsychologie geht davon aus, dass es bei einem Notfall kein Standardvorgehen gibt. Andererseits orientieren sich der Piloten vermehrt an Checklisten, um einen fehlerfreien «richtigen» Handlungsablauf zu gewährleisten.
Mentales Probehandeln kann hier – analog zum Bewegungsvorstellungstraining im Sport – den korrekten Handlungsablauf festigen. Genauso wichtig ist es für den Piloten, sein Stresslevel aktiv beeinflussen zu können. In der Sportpsychologie sprechen wir von der sogenannten Selbstregulationskompetenz. Nur wenn sich der Pilot psychoregulativ «im Griff» hat, kann aus dem richtigen Handlungsablauf auch ein passendes, der Notsituation angemessenes Verhalten entstehen.
Weshalb ist das Interesse an Extrem- und Risikosportarten in den letzten Jahren derart gestiegen?
Aus meiner Sicht gibt es mehrere Gründe, die es je nach Sportart unterschiedlich zu gewichten gilt. Ich sehe einen Trend im Aufkommen neuer Extremsportarten wie Freerunning oder Wingsuit Flying, die einem gewissen «Zeitgeist» folgen. Ihre Entwicklung ist vor allem durch die sozialen Medien befeuert. Dank eines bekannten Getränkeherstellers werden «gut vermarktbare» Extremsportarten verstärkt finanziell unterstützt, professionell inszeniert und mediatisiert. Natürlich erleichtern auch materialtechnische Entwicklungen den Einstieg.
Vielleicht aber ist das generell gesteigerte Interesse an Extrem- und Risikosportarten auch dem einfachen Umstand geschuldet, dass viele von uns ihr beschauliches und recht sorgenfreies Leben durch ein lustbetontes Freizeiterlebnis mit besonderem «Kick-Faktor» dynamisieren wollen.
Kann Extremsport süchtig machen?
Extremsport kann süchtig machen. Die Sucht entsteht allmählich und setzt sich aus den Teilen innerer Antrieb, Leistungsmotivation, Sensationslust und Erfolg zusammen. Aus der Sicht eines ehemals bescheidenen Leistungssportlers kann ich mir die hochemotionalen Glücksgefühle eines Extremsportlers sehr gut vorstellen, der mit neuer Bestzeit die Patrouille des Glaciers gewonnen hat.
Viele wollen das immer und immer wieder erleben, darum werden sie 2020 ein weiteres Mal an den Start gehen (die Patrouille des Glaciers findet alle zwei Jahre statt, die Red.). Tatsächlich leiden Extremsportler im Falle eines Entzugs. Extremsportlerin Evelyne Binsack spricht von einer «amputierten Seele», wenn sie daran gehindert würde, ihre Leidenschaft auszuleben.
Wie können Angehörige eines Extremsportlers mit dieser Sucht umgehen?
Das ist eine zentrale und ebenso brisante Frage. Auf einen ganz einfachen Nenner gebracht, bleibt wohl nur: es akzeptieren lernen und so gut wie möglich Unterstützung bieten.
Was ist aus ärztlicher Sicht problematisch am Extremsport?
Das fragen Sie am besten einen Sportmediziner. Für mich gilt die Formel: Der grösste Teil des Trainings eines Extremsportlers ist gesundheitsfördernd – darum sind sie ja auch so fit, widerstandsfähig und gesund. Darüber hinaus ernährt sich der Extremsportler richtig und achtet sehr sorgsam auf beste Erholung.
Absolut gesundheitsschädlich hingegen ist der Wettkampf oder der Rekordversuch. Das gilt im Übrigen auch für jeden Hobbyläufer, der einmal im Jahr einen Marathon laufen möchte.
Existiert im Wortschatz eines Extremsportlers das Wort «Restrisiko»?
Ja, das gibt es. Kritiker des Extremsports sprechen vom «kalkulierten Wahnsinn» und beziehen sich dabei auf das nicht durch den Sportler selbst beeinflussbare Restrisiko wie Steinschlag, Lawinen oder die Folgen von Fehlern anderer. Extremsportlerin Evelyne Binsack sieht das auch so: «Und wenn auf diesem Niveau etwas schiefgeht, kann das eben auch fatale Folgen haben.»
Warum betreiben Top-Manager Extremsport?
Top-Manager bringen höchste Motivationsfähigkeit, Robustheit, Fokussierung und Selbstvertrauen mit für ihre berufliche Tätigkeit. Alles Fähigkeiten, die gepaart mit einer Portion Egoismus auch den Extremsportler charakterisieren.
Manager finden im Extremsport zudem einen spannenden Lebensbereich, um eigene Grenzen auszuloten. Die Versuchung, Top-Management und Extremsport zu verbinden, kann gross werden. Die Wahrscheinlichkeit einer Überbeanspruchung erachte ich aber als hoch riskant.
Inwiefern könnte eine Teilnahme an der Patrouille des Glaciers den Führungsstil eines Top-Managers beeinflussen?
Ich glaube nicht, dass die Bewältigung einer Patrouille des Glaciers den Führungsstil grundsätzlich verändert. Die Erfahrung, gemeinsam und mit gegenseitiger Unterstützung, die Herausforderungen des Wettkampfes zu bestehen, dürfte einen positiven Impuls hinsichtlich Teamfähigkeit geben. Diesen in den Arbeitsalltag zu übertragen, scheint ungleich schwieriger zu realisieren.
Was geht in jemandem vor, der aufgeben muss?
Das hängt im wahrsten Sinne von der «Fallhöhe des Scheiterns» sowie der physischen und psychischen Versehrtheit des Betroffenen ab. Im ersten Moment ist es ein Schockerleben, gefolgt von negativen Emotionen wie Frust, Niedergeschlagenheit und Wut, Schmerz und Tränen.
So heftig diese Reaktion auch ausfallen mag, sie ist ein notwendiger Teil dessen, was ich als Sportpsychologe als «Productive Failure» bezeichnen möchte. Es setzt ein wichtiger Lernprozess ein, an dessen Ende hoffentlich stehen wird: Es ist total okay – ich habe zum richtigen Zeitpunkt aufgegeben.
www.die-sportpsychologen.de/2018/04/26/extremsportwww.die-sportpsychologen.de/2018/04/26/extremsport
Betreuer von Simon Ammann, Bruno Kernen und Sarah MeierDr. Hanspeter Gubelmann ist Fachpsychologe für Sportpsychologie FSP. Der 53 Jahre alte Zürcher hat in den letzten 25 Jahren vielfältige Erfahrungen in unterschiedlichen Handlungsfeldern des Sports gesammelt. In der Öffentlichkeit bekannt wurde er als langjähriger Betreuer des vierfachen Skisprung-Olympiasiegers Simon Ammann, von Abfahrtsweltmeister Bruno Kernen sowie von Eiskunstlauf-Europameisterin Sarah Meier. An der ETH Zürich ist Gubelmann im Teilpensum am Institut für Verhaltenswissenschaften in der Ausbildung zukünftiger Turn- und Sportlehrer engagiert. Als Experte und Dozent für Sportpsychologie unterrichtet Gubelmann an verschiedenen Universitäten in der Schweiz und im Ausland. Auf der Website www.die-sportpsychologen.de publiziert Gubelmann regelmässig Fachbeiträge zu aktuellen Themen der Sportpsychologie. Der eidg. dipl. Turn- und Sportlehrer II ist verheiratet und Vater von Zwillingen (17). Er wohnt in Uster. |