Die Patrouille des Glaciers gilt als härtester Hochgebirgswettkampf der Welt. Eine Spurensuche im Wallis.
© PdGIm Gänsemarsch zur Rosablanche: Die Skialpinisten nehmen die nächste Hürde.Es wird andächtig still in der Dorfkirche in Zermatt, als Pfarrer Stefan Roth die Patrouillen segnet. Nicht nur die Skialpinisten werden in diesem emotionalen Moment demütig, nein, auch die Angehörigen und Armeeminister Guy Parmelin sind tief bewegt. Kurz zuvor hat Oberst Max Contesse, abtretender Kommandant der Patrouille des Glaciers (PdG), eine Kerze angezündet und mit einer Schweigeminute verschollener Berggänger gedacht.
Walter Rumpf bekommt eine Gänsehaut und feuchte Augen, als am Schluss der Zeremonie die Nationalhymne ertönt. «Die Hymne löst bei mir Gefühle tiefer Verbundenheit aus. Die Generationen vor uns haben Enormes geleistet», sagt der 55 Jahre alte Berner.
Nach der Befehlsausgabe im Gotteshaus weiss Rumpf: Vor ihm steht ein beschwerlicher Gebirgswettkampf von Zermatt nach Verbier über 110 Leistungskilometer. Rumpf wird mit den Brüdern Bernhard (47) und Martin (53) Häuselmann eine Dreierseilschaft bilden.
Es ist jetzt 17.30 Uhr – noch fünf Stunden bis zum Start.
Anspannung beim Packen im Hotel
Nach einem Teller Spaghetti im Hotel Sunstar ziehen sich die drei Berner auf ihr Zimmer zurück. Werden am Anfang noch Sprüche geklopft, steigt die Anspannung von Stunde zu Stunde. Patrouillenführer Bernhard Häuselmann geht die Strecke mit seinen Kameraden ein weiteres Mal im Kopf durch. Er bespricht die Taktik, kontrolliert das Equipment: Thermounterwäsche? Ersatzfelle? Apotheke? Klettergurt?
Lawinensuchgerät? Stirnlampe?
Die Männer verstauen das Material in ihren Rucksäcken und in ihren Rennkombis. Rumpf fragt in die Runde, ob 4,5 Liter Isostar pro Person genügen würden. Insgesamt 27’000 Kalorien wird das Trio am «Ironman der Alpen» verbrennen – oder 90 Cheeseburger.
«Spaghetti unter den Füssen»
«Die Patrouille des Glaciers ist auch eine Materialschlacht», sagt Rolf Zurbrügg. «Das Gewicht der Skitourenausrüstung hat sich seit 2004 halbiert.» Heute wiegen Ski, Schuhe, Rucksack und Sicherungsmaterial zusammen nur noch fünf Kilogramm; die leichtesten Tourenrennski der Welt, das Modell «Verticalp» von Fischer, bringen gerademal 1,160 Kilogramm auf die Waage – 580 Gramm pro Ski. «Die Skialpinisten haben quasi Spaghetti unter den Füssen», meint der 46 Jahre alte Bergführer aus Adelboden. Er rüstet an der PdG 15 Athleten aus.
© Studio Patrick
Das Leiden am Berg: Walter Rumpf und Bernhard Häuselmann (rechts) erklimmen die letzten Höhenmeter zur Rosablanche (3160 m ü. M.).
Das technische Niveau sinkt
Das technische Niveau der Athleten sei an der PdG gesunken, stellt Zurbrügg fest. «Das hat auch damit zu tun, dass immer mehr Trailrunner im Winter alternativ Skialpinismus betreiben.» Heute könne sich an der PdG ein Drittel der Teilnehmer nicht selbstständig anseilen.
Auch die Entwicklung hin zu immer leichterem Material bereitet Zurbrügg Sorgen. Und er fügt an: «Im Vorfeld einer PdG trainieren nicht alle mit gebirgstauglicher Ausrüstung. Manche nehmen nur das Allernötigste mit; ein kleiner Tagesrucksack, leichte Kleider und dünne Handschuhe. Wenn das Wetter umschlägt, kann das auf dem Gletscher brandgefährlich werden.» In diesem Zusammenhang erwähnt Zurbrügg den deutschen Milliardär Karl-Erivan Haub, der seit dem 7. April 2018 als verschollen gilt. Er hatte im Matterhorn-Gebiet für die PdG trainiert und war mit wenig Gepäck unterwegs gewesen.
Es ist jetzt 22 Uhr – noch 30 Minuten bis zum Start.
Kurze, aber intensive Vorbereitung
Mit der Bezahlung des Startgeldes von 1260 Franken im September 2017 hatten Rumpf und die Häuselmann-Brüder das gemeinsame Projekt gestartet. Bis Februar 2018 trainierte jeder für sich. Dann folgten eine Trainingswoche im Engadin, eine Skitourenwoche im Aostatal, vier von Skitouren geprägte Ostertage im Diemtigtal und zum Abschluss ein intensives Wochenende auf der Bettmeralp. An Wochentagen holten sich die Berner in abendlichen Trainingseinheiten am Wiriehorn den Feinschliff.
Um 22.30 Uhr steigt die Berner Patrouille ins Rennen – mit der zeitgemässen Startnummer 2230.
Elite wird am Berg optimal versorgt
In Verbier jubeln die Zuschauer, als Werner Marti, Martin Anthamatten und Rémi Bonnet kurz vor 8 Uhr morgens im Ziel eintreffen. Die Schweizer Spitzenpatrouille meistert die Strecke von Zermatt nach Verbier in 5:45:28 Stunden – nur die Sieger-Squadra aus Italien ist schneller als die Eidgenossen (siehe Kasten nächste Seite).
Marti gratuliert den neuen Rekordhaltern: «Sie sind nach Papierform stärker als wir. Im Skitouren-Weltcup haben sie uns heuer mehrheitlich geschlagen.» Die Abgesandten des Schweizer Alpen-Clubs werden entlang der Strecke von Nationalteam-Kollegen und Trainern optimal versorgt. Deshalb kann Spitzenathlet Marti mit einem gefüllten 3-Deziliter-Bidon ins Rennen steigen, während Breitensportler Rumpf 4,5 Liter Flüssigkeit zur Tête Blanche hochschleppen muss. Dieser Gipfel ist mit 3650 Meter Höhe das Dach der PdG.
Auf die Berner Patrouille wartet niemand am Berg.
© Thomas Wälti
Auch privat im Höhenflug: Werner Marti und seine Freundin Déborah Chiarello prägten die Patrouille des Glaciers.Bis zu 250'000 Höhenmeter pro Jahr
Marti und Bonnet sind die einzigen Schweizer Vollzeit-Skialpinisten, die sich durch private Sponsoren und Zuwendungen der Sporthilfe finanzieren. Alle anderen Athleten aus dem Elitekader gehören der Sportlergruppe des Schweizerischen Grenzwachkorps an und können in dieser Funktion ebenfalls professionell Skialpinismus betreiben.
Marti kommt auf 800 bis 900 Trainingsstunden pro Jahr. Dabei bewältigt der 28 Jahre alte Grindelwalder bis zu 250'000 Höhenmeter. Um diese unfassbare Leistung besser einordnen zu können, ist es hilfreich zu wissen, dass der 1,80 Meter grosse und 68 Kilogramm schwere Athlet in einer Stunde zwischen 1500 und 1800 Höhenmeter schafft – ein durchschnittlicher Tourengeher legt in dieser Zeit 300 bis 400 Höhenmeter zurück. Auch im Sommer ist Marti fit wie ein Turnschuh: Für 1000 Höhenmeter Aufstieg benötigt er 31 Minuten.
Es ist jetzt 8 Uhr – die Berner Patrouille ist seit 9:30 Stunden unterwegs. Sie befindet sich beim Pas du Chat, etwas mehr als die Hälfte des Rennens ist geschafft.
Blaulichtorganisationen im Einsatz
In der Einsatzzentrale des KP San PdG in Sion werden die allfälligen Rettungseinsätze koordiniert. Alle Unfälle und Ereignisse, die eine Patrouille zur Aufgabe zwingen oder bei denen menschliches Leben gefährdet ist, müssen unverzüglich per Funk oder Telefon gemeldet werden. Die entsprechende Nummer ist in den vor dem Rennen an die Patrouilleure ausgehändigten Mobiltelefonen gespeichert.
Oberst Dr. Stefan Spörri kann in Sion auf zehn Stabsmitarbeiter, die Krankenabteilung Sion, drei Ambulanzen und zwei Armeehelikopter zurückgreifen. Entlang der PdG-Strecke sind 130 Fachkräfte stationiert; dazu gehören Armeeangehörige der San Kp 6 und des Rotkreuzdienstes, Mitglieder des Schweizerischen Militär-Sanitäts-Verbandes und des Koordinierten Sanitätsdienstes sowie 20 zivile Ärzte und Pflegefachfrauen. Weil die Armeehelikopter in der Nacht keine Rettungseinsätze fliegen dürfen, stehen Helikopter der Air Zermatt bereit.
Viele Höhenkranke werden ausgeflogen
«Wir haben insgesamt 23 Notfallflüge, fünf Rettungseinsätze mit den Ambulanzen und über 300 medizinische Beurteilungen während der Patrouille des Glaciers durchgeführt», sagt Spörri, der als Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe am Salem-Spital in Bern arbeitet.
«Die meisten Athleten litten unter akuter Höhenkrankheit und mussten schnellstmöglich aus dem Gebirge ausgeflogen werden.» Weitere Gründe für eine Evakuation in ein ziviles Spital waren Knie- und Schulterverletzungen, schwere Erschöpfungszustände, eine Handgelenks- sowie eine Wirbelsäulenfraktur, die glücklicherweise zu keinen neurologischen Schäden führte.
Es ist jetzt 10.30 Uhr – Walter Rumpf und die Häuselmann-Brüder befinden sich im Aufstieg zur Rosablanche
(3160 m ü. M.), dem Pièce de résistance der PdG. Die Berner sind froh, dass Kommandant Max Contesse den Start aus Sicherheitsgründen um eine Stunde vorverschoben hatte. Die Sonne brennt unbarmherzig auf die Teilnehmenden herab.
«Ein Prestigeanlass»
Insgesamt 126 Medienschaffende aus dem In- und Ausland berichten über die Patrouille des Glaciers. Die PdG generiert in der Region Arolla rund 22'000 Übernachtungen. Auch der Kurdirektor von Zermatt, Daniel Luggen, streicht die grosse Bedeutung des Skitourenrennens heraus: «Zermatt verzeichnet während der Patrouille des Glaciers bis zu 2500 zusätzliche Übernachtungen.» Die PdG sei ein Höhepunkt zum Saisonabschluss, sagt Luggen. Viele Hoteliers würden die Saison deswegen später beenden. Davon profitierten auch die Feriengäste. «Die Patrouille des Glaciers ist für die Schweiz ein Prestigeanlass. Hier kann die Milizarmee ihre Organisationsstärke unter Beweis stellen», sagt Luggen.
«Skitouren liegen im Fokus unserer Kommunikationsaktivitäten», sagt Andrea Bärwalde, Leiterin Unternehmenskommunikation bei Valais/Wallis Promotion. Sie berichtet, dass Bahnbetreiber dem gesteigerten Bedürfnis nach abendlichen Skitouren zunehmend Rechnung trügen und eine entsprechende Infrastruktur anböten. «Crans-Montana hat im vergangenen Winter 15 neue und unterschiedlich schwierige Tourenski-Strecken geschaffen. Auch der Rando-Parc in Morgins – mitten im Skigebiet Portes
du Soleil – ist ein Eldorado für Skitourengänger», sagt Bärwalde.
Es ist jetzt kurz vor 13 Uhr – die Berner Ski-Patrouilleure erreichen das Ziel in Verbier nach 14:22:48 Stunden.
© Thomas Wälti
Ruhe vor dem Sturm: Gequältes Lächeln bei Bernhard und Martin Häuselmann (Mitte und rechts), der Respekt vor der Patrouille des Glaciers steht Walter Rumpf ins Gesicht geschrieben.«Der härteste Wettkampf meines Lebens»
«Ach du meine Güte! Das war der härteste Wettkampf meines Lebens – in erster Linie gegen mich selber. Aber jetzt bin ich voller Glückshormone», sagt Rumpf. Unterwegs muss der Rechtsanwalt bange Momente überstehen. Beim angeseilten Aufstieg zur Tête Blanche war er fast eingeschlafen. Mehrmals war Rumpf dem Vordermann auf die Ski getreten oder hatte mit dem Skistock das Seil blockiert. Und oben angekommen, hatte ihn Schüttelfrost ereilt. «Da kamen Zweifel auf», so Rumpf. «Ich hätte ihm einen Koffeinschub geben sollen», sagt Bernhard Häuselmann mit einem Schmunzeln.
Mit der Abfahrt nach Arolla und dem Tagesanbruch beim Aufstieg zum Col de Riedmatten waren die Lebensgeister zurückgekehrt. Der herrliche Sonnaufgang hatte für die Leiden der Nacht entschädigt. «Mich haben Gefühle der Demut und des Dankes dafür ergriffen, lebendig und gesund zu sein und mich mit meinen Bergkameraden und all den anderen Patrouillen gemeinsam in diesem grandiosen Naturpark bewegt haben zu dürfen», erzählt Rumpf.
Als Freunde ausgeklinkt
© Thomas Wälti
Erleichterung im Ziel: Walter Rumpf, Bernhard und Martin Häuselmann (von links) finishen die Patrouille des Glaciers in 14:22:48 Stunden.
Die kurze, aber harte Vorbereitung habe sich gerade auf der zweiten Streckenhälfte nach Verbier gelohnt, erzählt Patrouillenführer Bernhard Häuselmann, der in der Konzernstrategie der Schweizer Post arbeitet. «Wir konnten gegen Schluss 47 Ränge gutmachen und haben dennoch mit einem breiten Lachen gefinisht!»
«Eine Patrouille schweisst einen fürs Leben zusammen – auch wenn das Seil nicht mehr da ist», schreibt Kommandant Max Contesse in der Bergsport-Zeitschrift «Die Alpen». Martin Häuselmann, Rechtsanwalt und Steuerexperte, sieht das genauso: «Wir haben in der Vorbereitung und im Rennen wunderbare Momente erlebt. Mein Bruder und ich kannten Walter Rumpf vorher nur flüchtig. Nun sind wir Freunde.»
Die Patrouille des Glaciers im RekordfieberResultate So schnell wie dieses Jahr das italienische Trio Robert Antonioli, Matteo Eydallin und Michele Boscacci hat im Rahmen der Patrouille des Glaciers (PdG) kein anderes Team das Rennen von Zermatt nach Verbier absolviert. Die Squadra benötigte für die 53 Kilometer lange Strecke mit 3994 Höhenmeter Aufstieg und 4090 Höhenmeter Abstieg 5:35:27 Stunden. Der alte Rekord, gehalten vom Schweizer Ensemble Florent Troillet, Martin Anthamatten und Yannick Ecoeur, stand bei 5:52:20. Auf dem zweiten Platz klassierte sich 2018 mit einem Rückstand von zehn Minuten die Schweizer Equipe mit den Wallisern Martin Anthamatten und Rémi Bonnet sowie dem Grindelwalder Werner Marti. Bei den Frauen gab es auf der langen Strecke durch die Walliser Alpen ebenfalls einen neuen Rekord: Jennifer Fiechter (Sz) sowie die Französinnen Axelle Mollaret und Laetitia Roux erreichten das Ziel in Verbier nach 7:15:35 Stunden. Die französisch-schweizerische Patrouille unterbot die alte Bestmarke um fast zwölf Minuten. Auf der kürzeren Strecke von Arolla nach Verbier über 26 Kilometer sowie 1914 Höhenmeter Aufstieg und 2374 Höhenmeter Abstieg sorgten die Schweizer Frauen für eine neue Bestmarke. Die favorisierten Déborah Chiarello, Marianne Fatton und Florence Buchs bewältigten die Strecke in 3:32:07 Stunden. Bei den Männern siegte das Schweizer Junioren-Team mit Julien Ançay, Maximilien Drion und Pierre Mettan in der Spitzenzeit von 2:44:32 Stunden. Statistisches Die 21. Ausgabe der PdG fand vom 17. bis 21. April 2018 statt. Insgesamt 4800 Skialpinistinnen und Skialpinisten aus 31 Nationen haben gestaffelt in 1600 Patrouillen teilgenommen. Der Frauenanteil betrug 16 Prozent. Der Die PdG gilt als härtester Tourenskiwettkampf der Welt. Der von der Schweizer Armee organisierte Skialpinismus-Wettkampf findet alle zwei Jahre statt. Das Budget der PdG beträgt 5,8 Millionen Franken. Es wird durch Leistungen der Armee, Sponsoren und Startgelder finanziert. Ab 1. Juli 2018 wird Daniel Jolliet als neuer Kommandant der Patrouille des Glaciers walten. Der 56 Jahre alte Freiburger löst Oberst Max Contesse ab, der nach drei Ausgaben an der Spitze der PdG in den Ruhestand tritt. Die nächste PdG findet 2020 statt. |