© Jörg Rothweiler
Die Keynote von Prof. Dr. Carlo Masala fand viel Beachtung.Am 22. Juni trafen sich in Luzern rund 80 geladene Gäste aus Wirtschaft, Industrie, Behörden und Gemeinden, um beim Swisscom Broadcast Experience Day 2023 zu erfahren, weshalb sich unser Sicherheitsverständnis im Wandel befindet – und was dagegen getan werden kann.
Corona, der Russland-Ukraine-Krieg, die Energiekrise, die China-Taiwan-Frage, die Wahlen in den USA. Keine Frage: Selten gab es mehr offene Fragen – und wohl kaum ein Mensch, der sich nicht sorgen würde. Um die persönliche Zukunft, die seiner Familie, seines Unternehmens, seiner Institution. Entsprechend gespannt waren die aus allen Landesteilen ins Grand Casino nach Luzern angereisten Gäste auf das, was renommierte Referenten und Spezialisten am Swisscom Broadcast Experience Day 2023 präsentieren würden.
Um es vorwegzunehmen: Der Nachmittag war spannend, vielschichtig und auch auf eine ganz spezielle Art «zwiespältig». Denn auf der einen Seite wurde bewusst, wie kritisch die Lage in vielfacher Hinsicht ist – und wie komplex die Zusammenhänge und Herausforderungen sind. Auf der anderen Seite wurde aber auch deutlich: Die Politik, die Wirtschaft, die Gesellschaft und ganz grundlegend wir alle müssen aktiv werden – und jetzt (!) das tun, was getan werden kann und getan werden muss. Abseits von Kostengedanken, abseits von Ideologien, abseits der Parteiideologien.
Russland, die Ukraine – und China
Einen Paukenschlag gab es gleich zu Beginn, als Dominik Müller, CEO Swisscom Broadcast, nach seiner kurzen Einführung das Wort an Keynote-Speaker Prof. Dr. Carlo Masala übergab. Der deutsche Politikwissenschaftler mit Schwerpunkten in Sicherheits- und Verteidigungspolitik lehrt seit 2007 Internationale Sicherheitspolitik, Wehr- und Völkerrecht an der Universität der Bundeswehr München, ist Mitherausgeber der Zeitschrift für Politik (ZfP), der Zeitschrift für internationale Beziehungen (ZIB) sowie Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Bundesakademie für Sicherheitspolitik und des NATO Defence Colleges – und seit Monaten einer der gefragtesten Experten für Analysen und Betrachtungen zum Kriegsgeschehen in der Ukraine. Zudem ist er, das erfuhren die Gäste ebenfalls, ein brillanter, bisweilen enorm schneller Redner – mit klugem Kopf, einer gesunden Portion Humor sowie bestechendem Fachwissen.
In seiner 30 Minuten kurzen Keynote «Der Krieg in Europa und seine Auswirkungen auf unser kollektives Sicherheitsverständnis» zeichnete Masala ein teils erschreckend akkurates Bild der Lage – und dessen, was noch kommen könnte.
Zunächst erläuterte Masala, weshalb der Russland-Ukraine-Krieg auch die Schweiz betrifft: «In den Konflikt involviert sind die beiden flächenmässig grössten Staaten Europas. Und einer davon ist eine Nuklearmacht. Zwar scheint der Krieg manchen weit weg. Doch die neoimperialistische Expansionsstrategie des russischen Regimes – Putin ist beileibe nicht allein – betrifft nicht nur die Staaten des Baltikums, sondern uns alle. Wenn nicht heute, so doch in Zukunft.»
Immerhin, so Masala weiter, habe der Krieg konkrete globale Auswirkungen. Auf die Lebensmittelversorgung in Afrika und Lateinamerika, auf Liefer- und Produktionsketten, die Weltwirtschaft und die Börsen, auf das weltweite Sicherheitsgefühl, die bevorstehenden US-Wahlen, die Europapolitik und auf die Erwartungshaltung sowie das künftige Agieren Chinas.
Laut Masala befinden wir uns «aktuell an einem womöglich entscheidenden Wendepunkt der Weltgeschichte. An einem, in dem es um nicht weniger geht, als darum, ob es revisionistischen Staaten wie Russland und China gelingen kann, die im Westen etablierte, liberale Weltordnung zu kippen.»
«Wir stecken mitten in einem neuen kalten Krieg», betonte Masala. In dieser Situation müsse sich auch der letzte Optimist «von der Idee verabschieden, dass auf absehbare Zeit wieder so etwas wie normale Beziehungen zu Russland möglich sein könnten». Die Sanktionen des Westens, die aktuell noch nicht ihr Maximum erreicht haben, würden für viele Jahre bestehen bleiben. «Alle Beziehungen werden heruntergefahren – bis auf null. Russland wird leiden. Bereits jetzt ist das BIP auf das Niveau Spaniens abgesackt. Zudem bröckelt Russlands Macht im Süden, da es nicht mehr die Ressourcen hat, dort als Ordnungsmacht aufzutreten. Das weckt Abspaltungsgelüste und Übernahmegelüste.» Daher geht Masala davon aus, dass Russland territorial schrumpfen wird. «Die russische Föderation wird kollabieren, unter Ausbruch vieler, auch blutiger Konflikte. Und letztlich wird Russland kaum noch mehr sein als Chinas billige Tankstelle.»
© Jörg Rothweiler
Die Podiumsdiskussion zum Thema Strommangellage zeigte auf: Der Winter 2023/2024 wird schwierig.China, Taiwan – und die USA
Als zweites, noch grösseres Problem von geopolitischer Bedeutung nannte Masala die Taiwanfrage: «Momentan wartet – und hofft – China auf die bevorstehenden US-Wahlen. Danach entscheidet Peking, wie es weiter vorgehen wird. Klar ist: China will Taiwan bis spätestens 2049 eingliedern – egal wie.»
Dabei, so Masala, hänge viel vom Verhalten der USA ab, die derzeit sehr zielgerichtetes Derisking betreiben, um ihre gefährliche Abhängigkeit von China abzubauen. Im Gegensatz dazu sei Europa auf dem besten Weg, mit China denselben Fehler zu wiederholen, der in Bezug auf Russland gemacht wurde. «Daher», so Masala, «sollten auch wir Derisking betreiben. Denn sollte China unsere Versorgung mit Halbleitern, Telekom-Produkten, PV-Panels, Akkus und anderem blockieren, gehen bei uns die Lichter aus – schnell und für lange Zeit!»
Vier wichtige Lehren
Aus den genannten Gründen formulierte Masala ein Fazit in Form von vier Lehren, welche die Politik, aber auch Unternehmen ziehen müssten:
1. Das bisherige «Prinzip der Hoffnung», das auf der Annahme basiert, der schlimmste Fall werde schon nicht eintreten, muss beendet werden – schnell und rigoros.
Stattdessen müsse das «Prinzip der bestmöglichen Vorbereitung auf den Worst Case» etabliert werden. «Natürlich ist es opportun und verständlich, darauf zu hoffen, dass alles gut gehen wird, und Worst-Case-Szenarien am liebsten zu negieren», erklärte Masala. Doch die Vergangenheit habe gezeigt, dass dieses Vorgehen zum Scheitern verurteilt sei. So habe Deutschland 2012 ebenso wie die Schweiz 2014 den Fall einer globalen Pandemie durchgespielt und festgestellt, dass das Land völlig unvorbereitet sei. «Doch da alle dachten, dass es eh nie eine Pandemie geben würde, wurde getrödelt und gezögert. Bis wir 2020 durch Corona eines Besseren belehrt wurden.» Spätestens seither müsse doch klar geworden sein: Prävention ist durch nichts zu ersetzen. Ausser durch noch bessere Prävention. Auch, wenn es viel Geld kostet.
2. Unternehmen müssen zwar wirtschaftlich, aber verstärkt auch geopolitisch denken.
In Kombination mit einem Mehr an Prävention müssten Unternehmen lernen, verstärkt geopolitisch zu denken, forderte Masala. «Immerhin bestimmt die Geopolitik darüber, welche Möglichkeiten, Chancen und Risiken heute und morgen in welcher Weltregion in welcher Ausprägung existieren.» Entsprechend könne nur taktisch und strategisch kluge Entscheide treffen, wer geopolitisch auf dem Laufenden bleibe.
3. Wirkungsvolle und effiziente Krisenfrüherkennung ist überlebenswichtig.
Angesichts der genannten Krisen, die uns jeweils kalt erwischt haben, müsse jedem klar geworden sein, wie eminent wichtig eine wirkungsvolle Krisenfrüherkennung sei, sagte Masala: «Nur wer eine sich anbahnende Krise rechtzeitig erkennt, kann diese im Idealfall noch abwenden – oder sich zumindest bestmöglich auf ihr Eintreten vorbereiten.»
4. Ein Denken in rein militärischen Szenarien greift zu kurz, selbst mitten im Krieg.
Dabei müsse in puncto Krisenvorbereitung heutzutage sehr breit gefächert gedacht werden, betonte Masala. «Der Russland-Ukraine-Konflikt zeigt, wie hybrid, also vielschichtig, moderne Kriege geführt werden – mit Waffen, Bildern, Fake-Informationen, Cyberattacken und mehr.» Zudem sei Konflikt an und für sich weniger militärischen als vielmehr ideologischen Ursprungs. «Putin spricht der Ukraine ihre Daseinsberechtigung ab. Für Putin gab es nie einen ukrainischen Staat. Er deutet die Geschichte auf seine Weise – und strebt nicht weniger an als die Vernichtung der ukrainischen Identität», führte Masala aus. Dabei decke der hybride Charakter des Konfliktes schonungslos unsere eigenen Schwächen auf. «Die Achillesferse unserer Gesellschaft sind schlechte Vorbereitung und mangelnde Resilienz», kritisiert Masala. «Zwar können wir Krise in dem Sinn, dass Deutschland in Rekordzeit Flüssiggasterminals errichten konnte und die Schweiz sehr schnell ein Gaskraftwerk betriebsfertig stellte. Das heisst aber noch lange nicht, dass wir mit Krisen umgehen können, diese lange durchhalten können – oder gar krisenresistent wären.»
Daher, so Masalas Schlusswort, sei es von grundlegender Bedeutung, Resilienz und Redundanz aufzubauen – für Staaten ebenso wie für Unternehmen und jeden Einzelnen. «Nur so werden wir in einer wirklich heftigen Krise nicht kollabieren.»