Das Projekt «Justitia 4.0» sieht vor, dass die Schweizer Justiz künftig rein elektronisch funktioniert. Ein Knackpunkt dabei sind praktikable Lösungen zur Erstellung rechtsgültiger digitalisierter Handunterschriften. Die Kantonspolizei St.Gallen hat ein entsprechendes Tool entwickelt – und seit Februar 2022 im Einsatz.
Ab 2027 soll – mit wenigen Ausnahmen – die papierlose Aktenführung in der Schweizer Justiz gesetzlich verpflichtend werden. So sieht es das Projekt «Justitia 4.0» (www.justitia40.ch) vor. Was innovativ und praktisch klingt, birgt allerdings – wie jedes Digitalisierungsprojekt – so viele Fallstricke, wie Schritte nötig sind, um einen Justizfall abzuwickeln, über alle Stufen und Instanzen hinweg, von der Rapportierung eines Falls über dessen Verhandlung bis zur Archivierung der Akten.
Alle Polizeikorps müssen digitalisieren
Zuvorderst in dieser Prozesskette stehen die Schweizer Polizeikorps. Sie müssen sich von der bis anhin gebräuchlichen papiergebundenen Vorgangsverarbeitung verabschieden – zugunsten durchgängig digitaler Workflows, die zwar weniger «handfest» sind als kiloschwere Aktenordner, aber eben auch effizienter und transparenter.
Wie die rein elektronische Vorgangsverarbeitung funktionieren kann, zeigt die «myABI»-Plattform. Diese wurde von einer Arbeitsgemeinschaft erarbeitet, in der sich 18 Kantone engagieren – wobei die Kantonspolizeien von Zug, Graubünden und St.Gallen als Pilotkorps fungieren. Laut Urs Studerus, Leiter Projektmanagement & Engineering bei der Kantonspolizei St.Gallen, funktioniert «myABI» verlässlich und stösst bei den Anwender*innen bereits auf breite Akzeptanz. «Das liegt nicht zuletzt daran, dass wir das Tool so gestaltet haben, dass es die Workflows nur insoweit unterstützt, dass die Arbeit möglichst leichtfällt und Fehler vermieden werden. Andererseits bietet die Lösung aber auch die Spielräume, welche es in der oft von Unerwartetem geprägten Polizeiarbeit einfach braucht.» Konkret leitet «myABI» fallbasiert durch die Verarbeitung eines Vorgangs, etwa ein Diebstahl, Einbruch oder Verkehrsunfall. Spezielle Handlungen – zum Beispiel Rechtsmittelbelehrungen – werden mit Hinweisen unterstützt, sodass kein Schritt vergessen geht. Ein grosser Vorteil dabei ist, dass zentrale Basisdaten nur einmal erfasst werden müssen. «Das Tool erleichtert die Arbeit an der Front und dank passender Schnittstellen auch die Korps- und Institutionen-übergreifende Zusammenarbeit, etwa mit der Staatsanwaltschaft», sagt Urs Studerus.Optimierungsbedarf erkennt er bei «myABI» derzeit vor allem noch bei der branchenübergreifenden Kooperation – bezüglich gewisser Inhomogenitäten bei den jeweils verwendeten Standards.
Herausforderung digitalisierte Handunterschrift
Neben der Realisierung von «myABI» war laut Urs Studerus die Entwicklung einer praktikablen Methode für die sichere und rechtsgültige Erfassung digitalisierter Handunterschriften ein wichtiges Puzzleteil auf dem Weg zur voll digitalisierten Vorgangsverarbeitung. «Die rechtssichere digitale Erfassung von Unterschriften ist ein essenzielles Element, um alle in der Polizeiarbeit relevanten Aufgaben durchgängig digital abbilden zu können – auch im mobilen Einsatz», betont Urs Studerus. Während Methoden zum rechtsgültigen Nachweis der Integrität und Authentizität elektronischer Dokumente (beispielsweise PDF/A-Dateien) wie die qualifizierte elektronische Signatur heute durchaus vielerorts etabliert seien, seien anerkannte Methoden zur Erstellung einer qualifizierten digitalen Unterschrift noch zu wenig verbreitet – nicht zuletzt, weil der Erwerb eines solchen Zertifikates nicht ohne Weiteres möglich ist.
«Eine Signatur hat zwei Komponenten: die eigentliche Unterschrift und die zweifelsfreie Identifikation der unterschreibenden Person», erklärt Urs Studerus. «Daher müssen Sie, wenn Sie bei einer/einem privaten Anbieter*in erstmalig eine qualifizierte elektronische Signatur erwerben wollen, dort persönlich vorstellig werden. Nur so gelingt ein sicherer Identifizierungs- und Authentifizierungsprozess.»
Spezifische Hard- und Software von «Namirial»
Übertragen auf die Polizeiarbeit an der Front bedeutet dies: Die Identifizierung einer Person wird vor Ort vorgenommen – durch die Polizeikräfte. Danach geht es darum, die von der identifizierten Person geleistete Unterschrift zu authentifizieren. Dazu verwendet die Kantonspolizei St. Gallen jetzt eine Lösung der italienischen Vertrauenslösungsanbieterin «Namirial», mit der auch die Zuger Polizei bereits Erfahrungen gesammelt hat. Diese Lösung besteht aus einer Software für die Serverumgebung, einer Client-Software für die Erfassung digitalisierter Handunterschriften und aus zertifizierter, normierter Hardware in Form eines Tablets mit PEN-fähigem Touchscreen oder Unterschriften-Pads sowie jeweils eines elektronischen Stiftes (PEN).
«Die Unterschriften-Lösung läuft als Client-Anwendung auf den Laptops unserer Mitarbeitenden. Sie wird direkt aus heraus gestartet und das unterschriebene PDF-Dokument wird auch in sowie im Dokumentenarchiv abgelegt», erklärt Urs Studerus. «Sobald ein Vorgang, etwa eine Einvernahme, bis zur Unterschriftsreife abgearbeitet ist, unterzeichnen unsere Mitarbeitenden auf ihrem Laptop. Danach unterzeichnet die involvierte Person. Entweder auf dem separaten Pad – auf dem sie natürlich zuvor auch das Dokument nochmals lesen und dessen Inhalt prüfen kann – oder, wenn kein Pad zur Verfügung steht, auf dem Screen des Polizei-Laptops.»
Biometrische Signatur garantiert Rechtssicherheit
So gestaltetet sich das Leisten einer Unterschrift für die involvierten Personen nahezu gleich wie bisher – mit dem einzigen Unterschied, dass auf einem Bildschirm statt auf Papier «geschrieben» wird. Den entscheidenden Beitrag im Hintergrund leistet die Unterschriften-Software von Namirial, wie Urs Studerus erläutert: «Neben Ort und Datum erfasst und speichert diese die gezeichnete Linie der Unterschrift, aber auch Anpressdruck, Geschwindigkeit sowie Lage und Winkel des Stiftes. Diese Daten werden verschlüsselt und direkt im PDF-Dokument gespeichert. So entsteht – durch die Kombination der Unterschriftendaten mit dem kryptografischen Verfahren – eine individuelle biometrische Signatur. Diese ist, wie eine konventionelle Handunterschrift, nötigenfalls mit einem forensischen Gutachten analysierbar. Ihr Beweiswert ist dem der klassischen Unterschrift mindestens ebenbürtig – oder übertrifft diesen sogar.»
Optisch erkennbar ist die in der biometrischen Signatur verborgene Datenflut nicht. «Sie sehen nicht mehr als die Unterschriftenlinie auf dem PDF-Dokument und können aus diesem auch nichts auslesen», erklärt Urs Studerus. «Der Schlüssel dazu liegt zu Teilen bei der Staatskanzlei und bei der Kantonspolizei. So ist sichergestellt, dass weder die Staatskanzlei noch die Kantonspolizei Zugriff auf die Daten haben und niemals eine Unterschrift fälschen könnten. Das gibt allen Sicherheit – der Polizei, der Justiz und den Bürger*innen, die digital unterschrieben haben.»
Seit 2021 im praktischen Einsatz, nun auch mit Pad
Im Fronteinsatz effektiv eingesetzt wird das Unterschriften-Tool auf dem Laptop seit Mitte 2021. Bereits damals wurde die Client-Lösung von Namirial auf den Laptops aller Mitarbeitenden installiert, welche digitalisierte Unterschriften einlesen können müssen «Im Februar 2022 erhielt zusätzlich jeder Polizeiposten ein Pad und jeder Stützpunkt zwei Pads. Überdies wurden auch weitere Stellen wie etwa die Kriminalpolizei mit Geräten ausgerüstet», erklärt Urs Studerus. «Erfreulicherweise verlief gleich die erste Woche ohne wesentliche Probleme», konstatiert Urs Studerus, der mit seinem Team rund 18 Monate in das Projekt investierte – und dabei durchaus auch Lehrgeld bezahlte. «Wir haben den Aufwand für Zertifizierungen und die Entwicklung gewisser Prozesse und Abläufe etwas unterschätzt. Auch musste der Lieferant noch ein bisschen Optimierungsarbeit leisten», erklärt er. «Doch jetzt haben wir das Roll-out hinter uns – und können uns ganz dem Change-Prozess widmen.» Dabei komme das neue Tool gut an. «Das direkte digitale Unterschreiben ist einfacher und natürlich deutlich schneller als das Ausdrucken, Unterschreiben und Wieder-Einscannen.»
Erfolgreiche Digitalisierung bedingt gutes Changemanagement
Für einen guten Start mit dem neuen Arbeitswerkzeug wurden Videoanleitungen erstellt, die den Mitarbeitenden der Kantonspolizei St.Gallen den effizienten Umgang mit dem neuen Tool vermitteln. Zudem bieten IT-affine Kolleg*innen in allen Regionen als Tutor*innen niederschwellige Unterstützung an – und das Team verfolgt anhand statistischer Auswertungen, wo das neue Werkzeug bereits wie häufig eingesetzt wird. «In einzelnen Gruppen wurden schon nach wenigen Wochen bereits rund 90 Prozent aller Vorgänge rein digital abgewickelt. Das zeigt uns: Es funktioniert, es ist praktikabel und es wird akzeptiert.»
Auf die Frage, welche Tipps er für Polizeikorps, die den Wechsel noch vor sich haben, auf Lager hat, führt Urs Studerus zwei Dinge an: «Erstens hat es sich gelohnt, dass wir im Vorfeld detailliert evaluiert haben, wo es wirklich eine Unterschrift braucht. Dabei stellten wir fest, dass sie bei zahlreichen Vorgängen, etwa einem Rapport, verzichtbar ist – weil ohnehin alles lückenlos und minutiös im System nachvollziehbar ist. Dieses Hinterfragen und Optimieren der eigenen Arbeitsweise, das bisweilen auch ein Umdenken seitens externer Partner*innen wie der Staatsanwaltschaft bedingt, hat uns geholfen, auf das Essenzielle zu fokussieren – zugunsten einer Schärfung der Anwendungsgenauigkeit.»
Sein zweiter Tipp betrifft das gezielte und frühe Fördern von Akzeptanz, insbesondere durch das Beantworten von Fragen und die konsequente Beseitigung erkennbarer Hürden. Als Beispiel nennt er die Unterschriften-Pads. «Viele Mitarbeitende hatten Mühe mit der Vorstellung, dass die Klient*innen ihre Unterschrift auf dem Touchscreen der Polizei-Laptops leisten, diese also in die Hand nehmen werden. Mit der Einführung der Unterschriften-Pads waren diese Zweifel, die sowohl Sicherheits- als auch Hygienebedenken fokussierten, ausgeräumt – und die Akzeptanz stieg deutlich», erinnert sich Urs Studerus.
Er wird die konkrete Nutzung der Lösung in den kommenden Wochen und Monaten genau beobachten, analysieren – und natürlich gut zuhören, welche Erfahrungen die Anwender*innen im Rahmen der täglichen Polizeiarbeit mit dem Tool machen. So können Verbesserungen erarbeitet werden – damit das digitale Unterschreiben mit einem PEN bald so alltäglich sein wird, wie es bisher mit Kugelschreiber und Papier war.