© Christoph ZarthWenn ein Notfall eintritt, beispielsweise ein Brand wie dieser im Wohnort des Autors, sind die Bürger*innen darauf angewiesen, dass die Notrufnummern funktionieren.Wenn ein Notfall eintritt, beispielsweise ein Brand wie dieser im Wohnort des Autors, sind die Bürger*innen darauf angewiesen, dass die Notrufnummern funktionieren.Wenn in der Prozesskette der Zustellung von Notrufen Fehler passieren, wie bei den Netzstörungen von Swisscom 2020 und 2021, droht der Verlust von Menschenleben. Im Projekt Referenzmodell Notruf streben nun alle Akteurinnen und Akteure und die Notrufinstitutionen nach mehr Sicherheit. Wir sprachen mit Theo Flacher, Bereichsleiter Einsatz & Prävention bei Schutz & Rettung Zürich SRZ sowie Vorsitzender des Steuerungsausschusses Organisation Notrufe, über die Gründe und die Ziele des Projekts.

Über den Wert der Einsatz- und Rettungsorganisationen für jede Person und unsere Gesellschaft muss man nicht diskutieren. Ebenso unzweifelhaft ist, dass die Bürger*innen die Hilfe der Notruforganisationen jederzeit anfordern können müssen – durch simples Absetzen eines Notrufs. Das Bundesamt für Kommunikation BAKOM schreibt dazu im «Bericht Notrufdienste»: «Der Zugang zu den Notrufdiensten vom Festnetz- oder Mobilfunktelefon ist ein Grundrecht des Bürgers. Es handelt sich dabei um das einzige Recht der gesamten Fernmelderegulierung, das seine Gesundheit und sogar sein Leben betrifft.»

So weit, so gut. Doch leider erschwert die fortschreitende Digitalisierung das Ganze. Spätestens seit Einführung der digitalen Telefonie (Voice over IP; VoIP), mit der hierzulande die Abschaltung des krisenresistenten analogen Telefonnetzes einherging, ist klar: Die Sicherstellung der Verfügbarkeit der Netze, und damit auch der Notrufsysteme, ist deutlich komplexer geworden.

Entsprechend sind Netzausfälle respektive -störungen, die auch die Erreichbarkeit der Notrufsysteme betreffen (siehe Box), auch künftig jederzeit möglich – mit potenziell schlimmen Folgen. Es war einzig purem Glück geschuldet, dass wegen der Nichtabsetzbarkeit von Notrufen während der 2020 und 2021 aufgetretenen Swisscom-Netzausfälle keine Opfer zu beklagen waren.

Am 9. Juli 2021 eskalierte das ­grundsätzlich bekannte Problem

© Screenshot allestoerungen.chWenn Netzausfälle oder -störungen wie jene vom 17. Januar 2020 die Erreichbarkeit der Notrufdienste einschränken oder vereiteln, sind Menschenleben in Gefahr.Wenn Netzausfälle oder -störungen wie jene vom 17. Januar 2020 die Erreichbarkeit der Notrufdienste einschränken oder vereiteln, sind Menschenleben in Gefahr.Nach der Nacht vom 8. auf den 9. Juli 2021, als infolge eines Teilausfalls im Swisscom-Festnetz in nahezu allen Kantonen während knapp acht Stunden – von kurz nach Mitternacht bis etwa 8 Uhr in der Früh – die Notfallnummern 117, 118, 144 und 112 via Festnetz nicht oder nur eingeschränkt erreichbar waren, ging ein Ruck durch die Schweiz. Im Nachgang einigten sich Swisscom und die Präsidenten der KKJPD und KKPKS darauf, die Situation mittels eines «Referenzmodells Notrufe» zu überprüfen – und den Auftrag dazu als Projekt an den Steuerungsausschuss des Gremiums Organisation Notrufe (siehe Box) zu übergeben, in dem auch alle Notruforganisationen vertreten sind. Vorsitzender dieses Steuerungsausschusses ist Theo Flacher, Bereichsleiter Einsatz & Prävention bei Schutz & Rettung Zürich SRZ.

Der erfahrene Fachmann, der die Notrufproblematik aus erster Hand kennt, weiss: Die im Projekt Referenzmodell Notrufe zu berücksichtigenden Herausforderungen sind vielfältig – auf technischer wie auch auf taktischer Ebene. Daher ist er überzeugt: «In diesem komplexen Umfeld greift die häufig einseitig auf Swisscom ausgerichtete Kritik ebenso zu kurz wie singulär gedachte Lösungsansätze.» ­Damit befindet er sich auf einer Linie mit dem BAKOM, das in ­seinem am 18. Juni 2020 zuhanden der Kommissionen für Verkehr und ­Fernmeldewesen (KVF) erstellten Bericht «Jüngste Netzunterbrüche bei Swisscom, Grundversorgung und Notrufdienste» festhält: «Swisscom unternahm anerkennenswerte Anstrengungen zur Fehleranalyse und zur Steigerung der Netzstabilität» siehe Box). Zusätzlich sei es, so das Bakom, «aber auch wichtig, die gesetzlichen und behördlich vorgegebenen Regeln und Abläufe in den Bereichen Grundversorgung und Notrufdienste zu überprüfen und zu hinterfragen».

Swisscom allein kann die Verfügbarkeit nicht garantieren

Dazu erklärt Theo Flacher: «Zwar stellt Swisscom die Notrufplattform zur Verfügung, über die sämtliche Notrufe aus allen Anbieter*innennetzen an die Public Safety Answering Points (PSAPs; insbesondere Notrufzentralen [NRZ]) weiter­geleitet werden. Dabei sind aber laut Fernmeldegesetz (FMG) alle Sprachtelefoniedienstanbieter*innen gleichermassen verpflichtet, technische Interoperabilität sicherzustellen.» Heisst: Ein Notruf muss – egal über welches Endgerät und in welchem Netz er abgesetzt wird – spezifisch geroutet über alle Netze hinweg weitergeleitet werden.

Ein Notruf hat also systemischen Charakter – und seine Weiterleitung ist eine Verbundsleistung aller Telefonie­dienstanbieter*innen. «Dennoch sind Letztere selbst auch nur ein Teil des Mosaiks», gibt Theo Flacher zu bedenken: «Auch die Hersteller*innen von Sprachtelefoniegeräten, die Betreiber*innen der Notrufzentralen und die Notruforganisationen selbst müssen sich aktiv engagieren – möglichst gemeinsam.»

Das Gremium Organisation Notrufe bündelt die Kräfte

Genau dies soll der im Gremium Organisation Notrufe (siehe Box) eingebettete Steuerungsausschuss Organisation Notrufe leisten. «Mit diesem Gremium verfügt die Schweiz erstmals über ein politisch und strategisch legitimiertes Organ, in dem alle Akteure und Akteurinnen und alle Notruforganisationen gemeinsam für eine optimale Verfügbarkeit der Notrufdienste­ agieren – über institutionelle, strategische und föderalistische Grenzen hinweg. Dabei sind je nach Bedarf auch die Telekom-Anbieter*innen (beratend) eingebunden – und das Bakom als Regulator ohne Stimmrecht.»

Das ist eine grosse Errungenschaft. Zwar gab es auch zuvor bereits Gremien, welche sich der Thematik Notruf widmeten. Doch diese waren ohne politischen Auftrag aktiv und agierten institutionell isoliert. «Dennoch haben auch diese sehenswerte Resultate erzielt, insbesondere beim Default Routing», betont Theo Flacher. Allerdings sei das Gremium Organisation Notrufe deutlich besser aufgestellt – weil alle Notruforganisationen gleichberechtigt mitmachen und an einem Strick ziehen.

© SRZTheo Flacher, Bereichsleiter Einsatz & Prävention bei Schutz & Rettung Zürich SRZ und Vorsitzender des Steuerungsausschusses Organisation Notrufe, engagiert sich gemeinsam mit allen Akteu­r­innen und Akteuren für eine jederzeitige Verfügbarkeit der Notrufnummern – auch mit Swisscom-Chef Urs Schäppi.Theo Flacher, Bereichsleiter Einsatz & Prävention bei Schutz & Rettung Zürich SRZ und Vorsitzender des Steuerungsausschusses Organisation Notrufe, engagiert sich gemeinsam mit allen Akteu­r­innen und Akteuren für eine jederzeitige Verfügbarkeit der Notrufnummern – auch mit Swisscom-Chef Urs Schäppi.Das Projekt Referenzmodell Notruf

Aktuell befindet sich das Projekt Referenzmodell Notruf in der Initialisierungsphase. «Nach Abschluss der Bestandsaufnahme und Analyse aller bisherigen Störungen werden zeitlich gestaffelt Massnahmen erarbeitet», erläutert Theo Flacher. «Zuerst gehen wir kurzfristig lösbare Herausforderungen an. Parallel dazu evaluieren wir, ob Anpassungen auf Verordnungs- oder sogar auf Gesetzesebene nötig sind. Diese brauchen ihre Zeit – und bilden daher mittel- bis langfristige Ziele.»

Auf die Frage, wo er bereits heute Handlungsbedarf erkennt, nennt Theo Flacher die Bereiche «Sender», «Fernmelde­anbieter*innen», «Notrufplattform», «Resilienz der Notruf­zustellung» und «PSAPs/Notrufzentralen».

«Die Vielfalt der Sendegeräte wächst», sagt Theo Flacher. «Neben Festnetz- und Mobiltelefonen (Smartphones) werden Notrufe längst auch von PC-gestützten Sprachtelefoniesystemen, Smartwatches und von mit E-Call-Systemen ausgerüsteten Fahrzeugen abgesetzt. Es muss sichergestellt sein, dass hierzulande erhältliche Geräte die Anforderungen erfüllen. Beispielsweise gibt es Smartphones mit spezifischen Konfigurationen, die ohne Einflussmöglichkeit der Anwender­*innen stets die Nummer 112 wählen – egal, ob man 117, 118 oder 144 eintippt. Das verhindert, dass man direkt die adäquate Notruforganisation kontaktieren kann – und provoziert ­Verzögerungen mit möglicherweise negativen Folgen.»

Mit Blick auf die Fest- und Mobilfunknetze ist es laut Theo Flacher zentral, dass nicht nur der Netzbetrieb selbst sichergestellt sein muss, sondern auch, dass Notrufe als solche erkannt und entsprechend spezifisch geroutet weitergeleitet werden – inklusive aller nötigen Daten, namentlich Standortangaben.

Besondere Bedeutung kommt überdies der von Swisscom betriebenen Notrufplattform zu. «Hier lauern – wie an allen Interkonnektionsschnittstellen, die ein Notruf durchläuft – diverse Fallstricke, welche nicht immer im Einflussbereich von Swisscom liegen», sagt Theo Flacher «Einerseits aufgrund von Interoperabilitätsproblemen. Andererseits, weil die Daten von vorneherein gar nicht oder in ungenügender Qualität oder Form mitgeliefert werden.» Zwar habe die von Swisscom als Sofortmassnahme bei allen PSAP eingeführte Notrufüberwachung der dynamischen Leitweglenkung die Resilienz der Notrufübertragung zu den PSAP ver­bessert. «Doch handelt es sich um eine kommerzielle ­Lösung, für welche die Notruforganisationen bezahlen ­müssen. Dies, weil die ­gesetzlichen Vorgaben das bis anhin so nicht vorgesehen haben», bedauert Theo Flacher.

© SRZSind die Notrufzentralen – hier jene von Schutz & Rettung Zürich – nicht erreichbar, können auch die besten Einsatz- und Rettungskräfte nicht zu Hilfe eilen.Sind die Notrufzentralen – hier jene von Schutz & Rettung Zürich – nicht erreichbar, können auch die besten Einsatz- und Rettungskräfte nicht zu Hilfe eilen.Ein weiterer wichtiger Themenkreis sind die ICT-Infrastrukturen. «Diese sind teils historisch gewachsen, inhomogen aufgebaut, technologisch komplex und entsprechend anfällig – etwa für unerwartete Kaskadeneffekte. Das hat die Störung im Swisscom-Netz im Juli 2021 gezeigt, welche durch Dominoeffekte nach einem fehlerhaften Software-Update an einem ganz anderen System ausgelöst wurde», erklärt Theo Flacher – und nennt als weiteren wichtigen Themenkreis die Notrufzentralen: «Allein im Kanton Zürich gibt es vier, landesweit sogar 55 NRZ. Jede nutzt potenziell ein individuelles System, was Raum schafft für Probleme, die weit über das oft strapazierte Schlagwort Redundanz hinausgehen. Mindestens ebenso wichtig sind nämlich genügend Kapazitäten und das Aktuell-Halten der verwendeten Technologien.» Gerade kleinere NRZ täten sich damit schwer – auch finanziell. Nicht zuletzt da die zwingend nötige Einbindung in die komplexe Systemlandschaft der NRZ die Zahl möglicher Anbieter*innen limitiert, was höhere Preise zur Folge hat.

Zum Zeithorizont des Projekts Referenzmodell Notruf kann Theo Flacher derzeit noch keine Auskunft geben, da der formelle Projektauftrag zum Zeitpunkt des Interviews noch ausstand: «Wir sind aber gut aufgestellt, alle involvierten Parteien agieren motiviert und stringent, die politische und strategische Legitimation ist vorhanden und das Verständnis der Telekom-Unternehmen für unsere Anliegen hoch. Von daher gehe ich davon aus, dass wir, wenn der formelle Projektauftrag erst vorliegt, zeitnah erste Massnahmen definieren können», sagt er.

Wenn es so weit sein wird, lesen Sie hier in Blaulicht ein Update zum Projekt Referenzmodell Notruf.

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